Schon unter den Intendanten Peter Jonas und Klaus Bachler wäre ein Engagement Stefan Herheims zu erwarten gewesen. Jetzt wurde es ein etwas anderer Abend: Herheim und sein engstes Team nach der Generalprobe in Corona-Quarantäne; dann die Nationaltheaterfront in Blau-Gelb angestrahlt, ganz oben auch die ukrainische Flagge im Abendwind; Intendant Serge Dorny mit einer Solidaritätsadresse und einem Bekenntnis zu „Freiheit, Demokratie, Brüderlichkeit“ vor Vorstellungsbeginn auf der Bühne und in der TV-Live-Übertragung; dann die düster orchestrierte Europa-Hymne aus dem Orchestergraben, vom Premierenpublikum im fast voll besetzten Haus stehend rezipiert.
Diese etwas bedrückte Stimmung passte zu einem Kernthema des Werkes, dem wiederholten „Welcher Hafen bietet Frieden … vor dem Sturm?“ Denn Herheim und seine Dramaturgen hatte sich entschieden, weder den Pädophilie- noch den Homosexuellen-Aspekt aus dem Werk herauszulesen. Sie zeigten ein an seiner emotionalen Verschlossenheit leidendes und seinem Einzelgängertum scheiterndes Mannsbild inmitten einer sich selbstgerecht ordnenden Fischerdorf-Gemeinschaft, alles in einem zeitlich nicht fixierten Heute. Dass da ein Außenseiter nicht an einer kleinen Gerichtsverhandlung, sondern an einem „Gerüchtsdrama“ zugrunde geht - das formte Herheim ohne einen sonst oft herausfordernden, eigenen Zugriff: jetzt gradlinig, textnah, unspektakulär. Zwar wurde der von Stellario Fagone höchstdifferenziert einstudierte Staatsopernchor ein bisschen viel und nicht immer überzeugend motiviert gruppenweise hin- und herbewegt, doch dem Frontalgesang - nahe einem fast erschreckend wuchtigen „Wir sind wir“ – stand eine Abstufung ins mal atmosphärische, mal fast gefährlich Leise gegenüber und das Pianissimo des Finales überwältigte – zu Recht ein mehrfacher Bravo-Sturm am Ende.
Zwar gab es feine Einzelzüge – wenn etwa nur die Lehrerin Ellen Grimes verteidigt und bei ihrem Abgang einzig Kapitän Balstrode die Mütze vor ihr zieht – oder wenn das Schicksal jener aus den Armenhäusern verkauften Jungen als miserabel ausgenutzte Hilfskräfte der Fischer wie Grimes in fast geisterhaften Auftritten eindringlicher als sonst gezeigt wurde: insgesamt blieb es eine sofort „lesbare“ Eins-zu-Eins-Inszenierung.
Das wirklich Faszinierende war die Bühne von Silke Bauer. Ihr Einheitsbühnenbild einer grau hölzernen Gemeindehalle mit Podium und einer kleinen Bühne hinter einem hell-blau-silbernem Vorhang konnte noch oben und hinten atemberaubend „auffahren“: erst wie ein umgedrehter Bootskiel wirkend, hochfahrend zum großen Kirchenraum, zum Dorfplatz mit Blick aufs Meer – wo dann nur Torge Møllers Himmel-Sturm-Brandungsvideos allzu schlicht blieben.
Zur karg-strengen Atmosphäre von Silke Bauers Bühne passte Edward Gardners Zugriff auf die Partitur und die sensible Umsetzung durch das Staatsorchester. Packendes Beispiel war das zweite Zwischenspiel „Sturm“: kalt, kantig, fulminant und dann gekonnt ins Abflauen übergehend. So klar und unsentimental, immer wieder ins Forte ausbrechend, wurde es ein Abend, der den Musikdramatiker Benjamin Britten hörbar machte, einen Britten, der damals von Mahlers 5.Symphonie, von Bergs „Wozzeck“ und auch Richard Strauss‘ Orchestrierungsraffinessen beeindruckt war.
Das verlangte den gut besetzten kleinen Rollen der Dorf-Mitglieder Einiges ab. Leider fehlten der stattlichen Lehrerin Ellen von Rachel Willis-Sørensen bei aller klaren Höhe die Wärme und auch mal emotionale Glut. Der als bullig-wuchtige Bühnenerscheinung beeindruckende Stuart Skelton wurde von der musikalischen Dramatik auch an tenorale Grenzen geführt, war aber ein überzeugendes Zentrum für die fast schon faschistoide Hysterie der Dorfgemeinschaft. Iain Paterson bildete mit schönem Bariton als Kapitän Balstrode einen zwiespältigen Ruhepunkt, der eben wohl einst – er trägt wie Grimes einen Anker-Pullover von ihr - auch ein Auge auf Ellen geworfen hatte. All diese Problematik fasste Dirigent Gardner packend zusammen. Benjamin Britten war als großer Musikdramatiker zu erleben – am Ende einhellig und stürmisch gefeiert.