Unsere Kritiker: Hans-Dieter Grünefeld, Mátyás Kiss, Michael Kube, Sven Ferchow und Christoph Schlüren
Unsere Kritiker: Hans-Dieter Grünefeld, Mátyás Kiss, Michael Kube, Sven Ferchow und Christoph Schlüren
Als Unikat, gar Unikum wurde der deutsche Komponist Heinrich Kaminski (1886–1946) bezeichnet, dessen klingendes Vermächtnis so abseits des Weges liege, dass es sich nur denen öffne, die imstande seien innezuhalten. Welcher Weg genau gemeint ist, bleibt vage zu vermuten. Sein Präludium und Fuge über den Namen ABEGG (wohl mit Bezug zu Robert Schumanns Komposition) breitet sich, nach pompösem Intro, in Grazioso-Manier mehrschichtig aus, wobei das Minguet Quartett Grazioso-Manier und zielgerichtete Stringenz vereinbaren kann. Solche dichotomische „Epik des Lebens“, die Widerspruch zu Prinzipien zulässt und erträgt, expandiert im Streichquartett F-Dur (wie bei Lawrence Sterne) zu amüsanten Digressionen. Nicht so strikt, stattdessen in expressionistisch grellen Timbres gefällt sich das Streichquartett op. 1 des Pianisten Glenn Gould (seine einzige publizierte Komposition) in polyphonem Disput der Stimmen. (CPO)
Vom Rand der Rezeption im Jazz her wendet sich Christian Muthspiel & Orjazztra Wien „La Melodia della Strada“ zu. Vital wie pulsierendes Leben auf der Straße ist diese grandiose Makro-Suite (wenn man so sagen darf) dem italienischen Cineasten Federico Fellini und seinen oft opulenten Inszenierungen gewidmet. Was in Filmen visuell wirkt, gelingt dem Komponisten und Klang-Regisseur Christian Muthspiel durch geeignete Arrangements. So bringt er zum Beispiel lustlahme alte Männer auf Trab, repräsentiert von einer „betrunkenen“ Posaunen-Fanfare. Immer ist das im unglaublichen Einvernehmen präsente Orjazztra ein makelloser corpus operandi, bei dem sowohl rohe als auch geschliffene Timbres maßgenau in sinnlichen Evokationen zur Geltung kommen. (Col legno)
So wie er in Personalunion Saxophonist, Komponist und Arrangeur ist, integriert Joshua Jaswon in seinem Projekt „Polar Waters“ Poesie und Partitur, Einzel- und Kollektiv-Partien zu einer superb geformten klangästhetischen Synthese für Oktett. Gewisse Ähnlichkeiten mit der Zwölftonkomposition „Pierrot Lunaire“ von Arnold Schönberg drängen sich auf: Die Sängerin Anna Seriersie kann aufgrund ihrer vokalen Fähigkeiten höchste Töne mühelos erreichen, zugleich hat sie instrumentale Funktion und Potenzial, Wörter und Verse klanggerecht zu artikulieren. Dennoch hat sie keinen Solopart – „Polar Waters“ ist ein poetisches Narrativ, das acht Stimmen interaktiv kombiniert. Die Musik ist mit Beziehung zur jeweiligen Prosodie komponiert: Sowohl die poetischen Rhythmen als auch die Spannungen und deren Auflösungen in Textur und Kadenzen innerhalb der Gedichte haben die Jazzsound-Strukturen beeinflusst. (Ubuntu Music)
In der Kammermusik sollte das Streichtrio durchaus mehr Aufmerksamkeit bekommen. Könnte gelingen, wenn es wie beim Leipziger Streichtrio, das eine illustre Werkkollektion vorlegt, von „Passion“ gefördert wird. Gerade die Dohnányi-Serenade – pulsierende Rhythmen, Viola-Lied in einem Pizzicato-Netz und ein wilder Karpatenklang-Ritt – treibt Neugier hervor. Auch die rotierende Polyphonie und extremen Timbres im Françaix-Trio, das aparte Stimmensplitting im Arrangement der Bach-Chaconne, die heftigen Seufzer-Motive im Sibelius-Trio und der skurrile Ländler der Enescu-„Aubade“ sind grandiose Exempel dieses Formats, hier in besten Interpretationen präsentiert. (Ars Produktion)
Manche randgelassenen Preziosen sind auffindbar, wenn man seinen Radius der Rezeption neugierig zu Panorama-Grenzen vorhandenen Repertoires weitet.
Hans-Dieter Grünefeld
Zum 100. Geburtstag hat das SWR Vokalensemble unter Yuval Weinberg die erste Gesamtaufnahme von György Ligetis A-cappella-Chorwerk vorgelegt, wohl der am wenigsten verbreitete Zweig seines Schaffens. Nicht nur die sprachlichen Tücken bilden eine Hürde, sondern auch der Anspruch an die Virtuosität der Sänger*innen. Doch hier fliegen zwei Stunden im Nu vorüber, weil die Perfektion dieses Weltklassechors ebenso mitreißt wie die humor- und temperamentvolle Vertonung der ungarischen Vorlagen, die Ligeti zu drei Vierteln noch in seiner Heimat anfertigte. Alle Texte liegen bei, aber leider nur in englischer Übertragung. (SWR Classic)
Der Pianist, Komponist und Dirigent Frédéric Chaslin hat mit seiner jungen Frau, der Sopranistin Julie Cherrier-Hoffmann, die dritte gemeinsame CD aufgenommen, gerade rechtzeitig zum 125. Geburtstag von Francis Poulenc. Dessen kongeniale Opernfassung des Cocteau-Monodrams „La voix humaine“, bietet Cherrier-Hoffmann als verlassene Geliebte eine Paraderolle, sekundiert vom venezianischen Orchester des Teatro La Fenice. Einige von Chaslin orchestrierte Klavierlieder Poulencs, allen voran die mit Hitpotenzial aufwartende valse chantée „Les chemins de l’amour“, sind das Sahnehäubchen auf dieser Produktion, die allerdings nur frankophonen Hörer*innen zu empfehlen ist (englische und deutsche Übersetzungen fehlen). (Aparté)
„Anna Veit singt Georg Kreisler – zum 101., zum zweiten und zum dritten“ erspart uns derartige Probleme. Die Singschauspielerin aus Niederbayern kennt ihren Kreisler natürlich aus dem Effeff und erhärtet auf aparte Weise den Verdacht, dass dessen abgründiger Witz und lustige Bosheiten noch immer ins Schwarze treffen. Aber auch musikalisch betrachtet hat Kreisler einiges zu bieten; diese Erkenntnis verdanken wir einer mit sanfter Stimme genau intonierenden Anna Veit und ihrem Klavierbegleiter Michael Gumpinger. (Solo Musica)
In ganz andere Sphären entführt uns (nach Krimmel/Grimaud) eine weitere Auswahl von „Silent Songs“ aus der Feder des exilierten Ukrainers Valentin Silvestrov. Fast 50 Jahre nach ihrer Entstehung scheint die Welt nun reif zu sein, die wie aus der Zeit gefallenen, diskreten Schönheiten dieser kleinen Meisterwerke zu würdigen – die Sopranistin Elene Gvritishvili und Alexey Pudinov am Piano bescheren uns eine schlackenlose und vor allem kitschfreie Interpretation. (Kaleidos)
Zum 75. Todestag von Umberto Giordano hat die Bayerische Staatsoper eine Produktion aus dem Jahre 2017 als Blu-Ray/DVD auf ihrem Eigenlabel veröffentlicht: Es brillieren Jonas Kaufmann als „Andrea Chénier“, Anja Harteros als Maddalena und George Petean als Gérard in einer Inszenierung von Philipp Stölzl, an der einfach alles stimmt: Bühnenbild, Kostüme, Personenregie, Kameraführung und das Dirigat von Marco Armiliato. Wenn für das heimische Sofa aufgezeichnete Opernabende immer so fesselnd gerieten, würde niemand mehr um teure Theaterkarten anstehen.
Zurück in die Analogära versetzt uns eine 40 Titel umfassende Serie von Vinylscheiben, welche daran erinnern, wie wenig Sinnenfreuden das ach so praktische Streaming bereithält: Hinter dem Reihentitel „Supper Club“ verbirgt sich eine geschickt kuratierte Sammlung von Klassikern und Raritäten der 1950er- und frühen 1960er-Jahre, in denen Sängerinnen aller Stilrichtungen Broadwaysongs und Balladen für intime Stunden vortragen. Damen, die nur gelegentlich zum Mikrofon griffen und sonst eher in Film- und Fernsehstudios aktiv waren oder sich bald ins Privatleben zurückzogen, zieren genauso wie die üblichen Verdächtigen Ella, Billie, Sarah, Nina und Dinah originalgetreue oder gut nachempfundene Cover, in denen mit DMM-Verfahren geschnittene und auf 180g schweres, planes Vinyl gepresste Platten stecken. Shirley Horn, Peggy Lee, Julie London, Carmen McRae, Helen Merrill oder Anita O’Day zu hören, lohnt sich natürlich nicht nur zur Weihnachtszeit, aber die auf 650 bis 1.000 Stück limitierten Auflagen, sauberes Remastering, mehrere Bonustitel sowie biografische und diskografische Angaben lassen Sammlerherzen höherschlagen. (In-akustik)
Mátyás Kiss
Es verwundert mich jedes Jahr aufs Neue: Die CD ist nach wie vor sehr lebendig. Allen Unkenrufen zum Trotz. Zwar werden schon lange nicht mehr Auflagen und Verkaufszahlen erreicht wie früher – und dennoch: Fast jeden Tag werden Neuerscheinungen angezeigt oder beworben. Meist sind es freilich Alben, mit denen einzelne Musiker*innen und Ensembles ihren Hut in den Ring werfen, um sich mal mit mehr, mal weniger ausgefallenen Programmen zu präsentieren. Erkennbar sind derartige Produktionen in der Regel am Cover-Porträt, zu dem sich dann noch eine poetische Benennung gesellt. Bei inhaltlich nicht gut sortierten Streaming-Diensten mag das hilfreich sein – oder auch nicht. Wer sucht schon ernstlich nach „Forgotten Arias“ oder „Beyond“, nach „Guitar Divas“ oder „Saisons d’amour“? Vielleicht sehen wir ja bald Boxen wie „Ludwig’s Nine“, gar „Schoenberg’s Twelve“ oder „Mozart’s Mannheim“. Doch Moment! Letzteres ist dieses Jahr bei der Deutschen Grammophon bereits erschienen mit einem Repertoire, das man früher bei der legendären Archiv-Produktion gesucht und gefunden hätte.
Hoch im Kurs stehen weiterhin wohlfeile Boxen. In immer wieder neuen Verkaufszyklen werden dabei die bekannten Schätze und manchmal auch ein Edelstein aus den unermesslich scheinenden Schallarchiven der einst Maßstäbe setzenden Labels durchdekliniert oder gehoben. Eine etwas seltsame Begegnung hatte ich in diesem Sinne mit der umfänglichen Retrospektive auf Trevor Pinnock und das von ihm geleitete Ensemble The English Concert (Archiv Produktion). Nach dessen umfänglicher diskographischer Tätigkeit umfasst dieser schwere Klotz aus 18 Jahren Interpretationsgeschichte respektable 99 CDs (und eine DVD). Der musikalische Content wurde dabei nicht umgeschnitten; die ursprünglichen Alben blieben genauso erhalten wie die originalen Covers, Letztere allerdings in unerträglich mittelmäßiger Druckqualität.
So kam es zu Wiederbegegnungen mit einigen noch immer sehr geschätzten Einspielungen, darunter auch meine „erste CD“, mit der Mitte der 1980er-Jahre der Medienwechsel im Jugendzimmer eingeläutet wurde. – In solchen Momenten fühlt man sich unversehens selbst „alt“ geworden. Oder wie geht es Ihnen bei derartigen (Wieder-)Begegnungen?
Apropos runde Zahlen: In diesem Jahr betraf dies nicht nur Byrd, Reger, Ligeti und Rachmaninow, sondern auch (und dies nur in persönlicher Auswahl) Schmelzer, Ahle, Quantz, Joseph Woelfl,Lalo, Aloys Förster, Leo Fall, Joseph Jongen, Benjamin Frankel, Kurt Thomas, Gian Francesco Malipiero oder Alois Hába. Außer bei Rachmaninow ist das Jubel- und Gedenkjahr vermutlich am Player wie im Konzertsaal kaum jemandem aufgefallen. Blumentöpfe waren und sind mit ihren Werken offenbar nicht zu gewinnen. Was will man auch machen, wo nach Corona die Spielpläne und Konzertprogramme (gefühlt) noch austauschbarer geworden sind?
Da bleibt nur zu hoffen, dass manche neuen Eigentumsverhältnisse auf absehbare Zeit keine erschütternden Beben nach sich ziehen werden: Das englische Label Hyperion wurde nach 43 Jahren von Universal übernommen, das schwedische Label BIS Records ging nach genau 50 Jahren an Apple Music. Es heißt in beiden Fällen, die Eigenständigkeit der Kataloge solle gewahrt werden.
Gut, wenn es dann so bleibt, aber eine seltsame Konzentration ist dies schon. Erstaunlicherweise drängen aber auch andere, junge Labels auf den schmaler werdenden Markt wie etwa die Schweizer Fonogramm oder Prospero (ebenfalls aus der Schweiz). Gehen in der Eidgenossenschaft die Uhren anders? Wir werden sehen.
Michael Kube
John Frusciante steht also da, spielt Gitarre und kann nicht anders. Trotz oder gerade wegen seiner Heimkehr zu „seinen“ Red Hot Chili Peppers, lässt er nicht die Finger von Soloveröffentlichungen. Die ihn freilich schon sein gesamtes Musikerleben, vor allem aber seine Lebensphasen von „clean bis voll drauf“ begleiten. Mit dem sperrigen Titel „:II.“ (Doppelpunkt, großes I, großes I, Punkt.) setzt das Album bereits die ersten Nebelkerzen, die sich im Sound, den Songs und in der umfassenden Atmo fortsetzen: elektronische Loops, Hall aus der Hölle, Gitarren auch irgendwo, Lieder oder deren Fragmente und eine vielleicht fatalistische Grundeinstellung. Frusciante hatte schon bessere Soloalben, „:II.“ wächst allerdings mit zunehmendem Hören. (Avenue 66)
„Morgens um Vier“ ist tatsächlich das 15. Studioalbum von Element of Crime. Und erneut gelingt es der Band, der Hörerschaft glaubhaft zu vermitteln, dass man sich auf deren Lebensphase eingestellt hat („Wir fühlen euch“), nicht die eigene selbsttherapeutisch verarbeitet. Jeder Titel geht messerscharf ins Private, oft in die Seele. Und da steht man nun, mit all der Traurigkeit, mit all der Ironie, mit insbesondere all dem Realismus, den Element of Crime auspacken und kübelweise wie großzügig ausschütten. Ja, man kann mit Songs wie „Unscharf mit Katze“, einem herausragenden Türöffner, untergehen und sich jammernd der Embryonalstellung hingeben. Man kann aber auch, und das ist das fast schon tragisch Zweischneidige an jedem EoC-Album, an den Songs wachsen. So geht Musik. (Vertigo Berlin)
Wenn man so will, ist die britische Sängerin Birdy der absolute Gegenentwurf, die Gegenzahl und eventuell auch die Antithese zu Taylor Swift. Wo Letztere laut, schrill, bunt, medial unausweichlich erscheint, steht Birdy quasi in der Ecke und ist leise, aufgeräumt, mehr sepia und für viele leider immer noch unentdeckt. „Portraits“, ihr aktuelles Album, taugt für diese gewagten Behauptungen allerdings prima als Beweisstück. Birdy versteht es, aus leisen Tönen gigantische Songs zu schaffen, aus vermeintlicher Schlichtheit innere Schönheit zu entfalten. Birdy ist für das Genre Popmusik ein kleiner Leuchtturm. (Warner)
Etwas überraschend gab es 2023 zwei Alben von The National. Jener Band, die seit geraumer Zeit extrem mit sich selbst und Besetzungswechseln kämpft. Zu hören am und im April erschienenen Album „First Two Pages of Frankenstein“. Etwas erholter zeigt sich dann „Laugh Track“. Beide Alben sind musikalisch über jeden Zweifel erhaben. Selbstverständlich ist vieles bitter, ausweglos. Bisweilen geizig instrumentiert, dafür umso wuchtiger im Abschluss. Schwer zu beschreiben, wie sich das musikalisch oft noch ausgeht, dass The National hier und da noch die Biege machen, wo andere Bands den Song ausklingen lassen. Da geht es eben dann bei The National erst richtig los. Plus: wunderschöne Geschichten über das Scheitern aka Leben. Muss man gehört und erlebt haben. (Beggars Group)
Ein ordentliches Päckchen Sorgen, Gedanken und Kopfkino gibt uns Sufjan Stevens Ende des Jahres mit auf den Weg. „Javelin“ erinnert überwiegend an sein Album „Carrie & Lowell“. Und damit sind wir beim Thema. Es geht ans Eingemachte. Sufjan Stevens und „Javelin“ muss man aushalten können. Aber auch zulassen. Ein Emotionsbrocken ist dieses Album. Reißt hinunter, gefühlt zum Erdkern, kommt aber auch nur schwer wieder hoch. Zehn Songs, die lyrisch den höchsten Ansprüchen genügen und musikalisch tränenselig sind. (Asthmatic Kitty)
Sven Ferchow
In der Rückschau fällt seit Corona besonders der Rückgang an Orchesteraufnahmen auf, und so überschatten die historischen Veröffentlichungen der Major Labels wie sämtliche EMI-Orchesteraufnahmen von Otto Klemperer (Warner Classics) oder das (fantastisch aufbereitete und äußerst vielfältige) zweite Set des Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy (Sony Classical: die frühen Stereo-Aufnahmen 1958–63 auf 88 CDs) alles andere. Während Klemperer einer der Klassiker schlechthin bleibt, verführt Ormandy unter anderem mit Virtuosität, prallem Klangbild, amerikanischen Raritäten von Yardumian, Dello Joio oder John Vincent, Pionieraufnahmen der E-Dur-Symphonie Tschaikowskys in Bogatyrevs Rekonstruktion oder von Schostakowitschs Vierter: eine unerschöpfliche Fundgrube.
An neuen Aufnahmen seien hervorgehoben: Mieczyslaw Weinbergs 12. Symphonie mit präziser Wucht unter John Storgårds (Chandos); Max Regers Hebbel-Requiem, Einsiedler und „An die Hoffnung“, späte Meisterwerke in sorgfältiger Einstudierung unter Christoph Spering (Capriccio); die zauberhaft neoklassizistisch-bläserlastige Kompilation „École de Paris – Paris pour École“ mit Jacques Ibert, George Antheil, Simon Laks und der herausragenden „Étude en deux parties“ von Marcel Mihalovici unter Johannes Zurl (EDA), zugleich ein vorbildlich freisinniges Konzeptalbum; und, elegant dargeboten unter Jonathan Stockhammer, die wertvolle 3. Symphonie des bedeutenden Strauss-Zeitgenossen Hugo Kaun (CPO). Vielleicht die schönste Überraschung des Jahres ist das lichtdurchflutet grenzüberschreitende Violinkonzert des 1972 geborenen Vito Palumbo – er ist für mich ein stilistisch wegweisender Meister unserer Zeit, und die Aufnahme dem Geiger Francesco d’Orazio lässt absolut keine Wünsche offen (BIS).
Fast nirgends sind die perfektionistischen Ansprüche so hoch wie beim Streichquartett. Geradezu ideal spielt das Gerhard Quartet die stimmführerischen und atmosphärischen Feinheiten in der zweiten Folge des überragenden spanischen Quartettkomponisten Conrado Del Campo aus, das muss man gehört haben (March Vivo); repertoiremäßig eine feine Entdeckung ist das innige 2. Streichquartett des nach England geflohenen, völlig vergessenen Meisters Robert Müller-Hartmann (Chandos); und von phänomenaler, zeitlos vorbildlicher Qualität sind die Aufführungen des Wittenberg-Quartetts von 1913 (Mozart, Beethoven und Mendelssohn) als Anhang zu einer Kompilation des Wendling-Quartetts (Biddulph). Weitere empfohlene Kammermusikaufnahmen: Hans Pfitzners monumentales Klaviertrio mit dem Wiener Schubert-Trio (eingespielt 1988, Nimbus); die hinreißende „Armenian Brillance“ von Geiger Nikolay Madoyan und Pianistin Armine Grigoryan, ein Querschnitt von Komitas über Chatschaturian bis Mirzoyan (Naxos); versonnene Lyrik von Georges Migot für Bratsche und Klavier mit Andrea Cagnin und Patricia Pagny (Stradivarius); und Rolf Schultes fulminantes US-Avantgarde-Album für Sologeige sowie mit Ursula Oppens am Klavier: Wolpe, Donald Martino, Cage und Carter (Centaur). Als besonders gelungenes Klavier-Soloalbum möchte ich Inon Barnatans „Rachmaninoff Reflections“ auswählen, wo neben seiner Bearbeitung der Symphonischen Tänze die frühen Moments musicaux die bislang beste, feinsinnigste mir bekannte Darbietung erfahren (Pentatone).
Beschließend komme ich zum großen Orchester zurück, ganz aktuell: Rémy Ballot hat mit dem Altomonte-Orchester in der Stiftsbasilika St. Florian über die letzten zehn Jahre Anton Bruckners Symphonien zuzüglich der ‚Annulierten‘ eingespielt (Gramola), im langen Nachhall der Bruckner-Kirche mit erstaunlicher Transparenz: ein phänomenales Projekt.
Christoph Schlüren
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