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 Die Mainzer Virtuosi beim "Eurovisionen"-Programm der Mainzer Musikhochschule. Foto: Martina Pipprich
Die Mainzer Virtuosi beim "Eurovisionen"-Programm der Mainzer Musikhochschule. Foto: Martina Pipprich
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Auf der Suche nach einer anderen Moderne: „Eurovisionen“ blicken an der Mainzer Musikhochschule gen Norden

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Viereinhalb Jahre nach der Einweihung des Neubaus auf dem Mainzer Universitätscampus hat sich der Rote Saal der Mainzer Musikhochschule als wichtige Konzertstätte etabliert – nicht nur innerhalb der Stadt. Im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz, der dieses Jahr unter dem Motto „Eurovisionen“ steht, luden die Mainzer Virtuosi und der Förderverein MING/MCM zu einem Konzert unter dem Titel „Europa von Nordosten nach Nordwesten“. Mittendrin eine Uraufführung: Eine Romanze des 1960 geborenen englischen Komponisten Peter Seabourne.

Spannend las sich die Programm-Idee. Für den rührigen Verein mit dem Bandwurm-Namen „Musique Internationale Next Generation Connection Mainz e.V.“ geht es darum, Europa als zusammenhängenden Kulturraum in seiner Vielfalt wahrzunehmen und dabei auch den unterschiedlichen Zugang zu zeitgenössischer Musik zu erfahren. Dabei richtet sich der Blick in die nördliche Hemisphäre: Nach England, das derzeit zum Isolationismus tendiere und dessen Komponisten im deutschen Konzertbetrieb wenig präsent seien, und ins Baltikum, von dem nicht nur wirtschaftliche, sondern auch spirituelle und musikalische Impulse ausgingen. Dass Europa „wesentlich mehr als ein Finanz- oder Handelsraum“ ist, ist nun in der Tat eine Erkenntnis, die nicht in die Sonntagsreden der politischen Klasse gehört, sondern „vor Ort“ erfahren werden muss – gerade in der Krise Europas.

Allerdings war die Ankündigung mutiger als das eigentliche Programm, das vor allem Skandinavien fokussierte und sich dabei zunehmend retrospektiv gestaltete. So erklang im zweiten Teil mit der unterhaltsamen Suite für Violine, Viola und Streicher op. 19 des Schweden Kurt Magnus Atterberg (1887-1974) ein klanglich und ästhetisch im 19. Jahrhundert verhaftetes Werk, und ihm folgten drei Sätze aus dem Streichoktett op. 17 des Dänen Niels Gade von 1849, das hörbar in der Tradition Mendelssohns steht. Beide Male handelt es sich allerdings um originelle Kompositionen, und die Mainzer Virtuosi, ein 2007 aus der Violinklasse von Prof. Anne Shih erwachsenes und in der Regel ohne Dirigenten agierendes Streicherensemble mit breitem solistischem Potential, konnten ihre hohe Spielkultur beweisen.

Deutlich näher an der Programm-Idee war der erste Teil: Er begann mit Arvo Pärts „Cantus in memoriam Benjamin Britten“ für Streichorchester und Glocken, dessen meditative Grundhaltung das junge Ensemble in eindrucksvoller Ruhe und Geschlossenheit auszuspielen wusste. Danach wurde es kammermusikalisch. Eliron Czeiger (Violine) und Laura Mehlin (Cello) interpretierten eindrucksvoll die Passacaglia für Violine und Cello des norwegischen Komponisten Johan Halvorsen (1864-1935), eine virtuose „Übermalung“ der berühmten Passacaglia g-moll von Georg Friedrich Händel, die in der Grundhaltung an Sergej Rachmaninows „Paganini-Variationen“ erinnert. Auch hier also 19. Jahrhundert - aber zugleich ein Verweis auf einen entkrampften Umgang mit Tradition, von dem in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert nicht all zu viel zu spüren war.

Mit „Aske“ (zu deutsch „Asche“) für Violine Solo des norwegischen Komponisten Ståle Kleiberg (Jg.1958) präsentierte Agnes Langner ein erst 2010 entstandenes Stück für Solovioline, das trotz seiner relativen Kürze nicht nur durch die Vielfalt geigerischer Techniken beeindruckte, sondern mehr noch durch die Kombination von improvisatorischem Gestus und Mut zur Expression. Ähnlich in der Grundhaltung erscheint auch „This is a song for you alone“ von Peter Seabourne (Jg. 1960), die an diesem Abend uraufgeführte „Romanza“ für Violine und Streicher, nur dass hier die Möglichkeiten der größeren Besetzung in Klangentfaltung, Imitationen und Kontrasten adäquat genutzt werden – bis hin zur Kombination höchster Flageolett-Töne in der Solovioline mit einem leise in tiefster Tiefe brummenden Kontrabass-Bordun. Umsichtig geführt von Dmitry Khakhalin, der für dieses Werk die Bratsche mit dem Dirigenten-Pult vertauschte, gelang Irina Borissova an der Solovioline und den Mainzer Virtuosi eine ebenso sprechende wie spannende Interpretation.

Während das Programmheft mit Informationen zu Kleibergs und Seabournes Werken geizte, konnte man dem Pausengespräch mit dem englischen Komponisten entnehmen, dass die 2001 entstandene und mit 12 Jahren Verspätung uraufgeführte Romanze das erste Werk nach langer Schaffenspause war. 12 oder 13 Jahre lang habe er sich der „Tyrannei des kompositorischen Mainstreams“ entzogen, berichtete er. Einen großen Strang der musikalischen Entwicklung im 20. Jahrhundert empfinde er als Sackgasse, sagte Seabourne und ließ keinen Zweifel daran, das er im Zweifelsfall Richard Strauss über Pierre Boulez stelle.

Tatsächlich erinnern einige orchestrale Klangwirkungen von Seabournes Romanze an Debussy oder Wagner, aber die eruptiven Ausbrüche der Solovioline und die über weite Streckennervös-gespannte Grundhaltung des Werkes verweisen doch eher auf eine starke Affinität zum musikalischen Expressionismus. Er habe damals Stefan Georges Gedicht „Das ist ein Lied für dich allein“, das dem Stück den Titel gab, in der Vertonung Anton Weberns (op. 3 Nr. 1) studiert, berichtete Seabourne und zitierte sinngemäß die Gedichtzeilen “von kindischem Wähnen, von frommen Tränen“, die ihn zur Unmittelbarkeit des musikalischen Ausdruck ermutigten: „Ich bin keiner, der mit Noten spielt. Es muss ans Herz springen.“

Befragt nach Vorbildern nannte Seabourne bewusst den norwegischen Maler (!) Edvard Munch, dazu neben Schönberg die Komponisten Gustav Mahler, Maurice Ravel und Olivier Messiaen, vor allem aber Leoš Janáček, der für „eine andere Art von Moderne“ stehe. Befragt nach der Situation von Komponisten im vereinigten Königreich, beklagte der englische Gast mangelnde Aufführungschancen für größere Werke und überhaupt die Tendenzen zu Kommerzialisierung und Oberflächlichkeit im Musikleben. In Mittel- und Osteuropa gehe es seriöser zu, die Interpreten seien gründlicher, die musikalische Ausbildung länger, aber tiefer, und er fühle sich als Komponist hier mehr zu Hause. – Europäische Kulturbegegnungen, so dürfen wir in der Krise Europas mitnehmen, sind also durchaus in beide Richtungen fruchtbar.

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