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DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL, Regie: Rodrigo Garcia, Premiere 17. Juni 2016 Deutsche Oper Berlin, Foto: © Thomas Aurin
DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL, Regie: Rodrigo Garcia, Premiere 17. Juni 2016 Deutsche Oper Berlin, Foto: © Thomas Aurin
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Bassa Selim ist eine Lesbe – Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ erheitert und empört Besucher der Deutschen Oper Berlin

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An der Deutschen Oper Berlin scheint sich eine neue Dramaturgie der Bildersprache zu manifestiert zu haben: am Vorabend der Mozart-Premiere wartete die Erstaufführung „Underline“ mit eben jenen Versatzstücken auf, die auch in der Neuinszenierung von „Die Entführung aus dem Serail“ wieder anzutreffen sind, Ballspiel, kreisrunde Projektionen, Zuckerwatte und in der Luft verstreutes, weißes Pulver.

Die Latte für ungewöhnliche Inszenierungen von Mozarts einziger deutschsprachiger Oper im italienischen Stil liegt gerade in Berlin sehr hoch, insbesondere durch Calixto Bietos Arbeit an der Komischen Oper. Dieses Maß unterläuft Regisseur Rodrigo García, indem er auf Lacher durch Videokunst und Comics setzt. So werden etwa die in die Kamera eines iPads singenden Darsteller durch eine App zu singenden Tieren, oder sie fügen ihre Gesichter klassisch in Gesichtsöffnungen von Comicfiguren auf einem herabgelassenen Prospekt.

Die Absicht der Veralberung ging in der Premiere insofern auf, als bereits während der Ouvertüre im Publikum wiederholt – an musikalisch deplatzierten Stellen – laut und viel gelacht wurde.

Auf einer großen, aufgeblasenen Kugel ist als Video-Montage die Reise eines jungen Manns in einem ungewöhnlichen Gefährt durch Stadt, Land, Wüste und über Achterbahnen zu erleben. Mitreisende im roten Gefährt jenes Manns, der sich später als Belmonte (Matthew Newlin) herausstellt, sind zwei kesse Damen, die im Fahrzeug ihre Kleidung tauschen, durchs Fenster kotzen, sich schminken und sich küssen. Später sind sie in einem beschleunigten Porno – in Varianten von Dreier-Stellungsspielen – nochmals im aktiven Vollzug zu erleben, wobei neben dem Bett ein Mozart-Bild hängt.

Diese Damen sind offenbar Belmontes Mitbringsel für Bassa Selim. Der ist hier eine hochgewachsene, pigmentierte Lesbe und Inhaberin einer Chemikalienfabrik – mit den von Apple über Shell bis Meister Proper adaptierten Logos und Icons. Bassa (die als TV- Darstellerin bekannte Annabelle Mandeng) akzeptiert den Belmonte sofort als Mitarbeiter, denn der ist „Architekt“ einer neuen Mischung Crystal Meths, welches die sexy Magnatin sofort testet, was sie vom Genie Belmontes voll überzeugt.

Die Dialoge für KV 384 sind neu und zumeist in englischer Sprache, werden aber – im Gegensatz zum deutschen Gesang – nicht übertitelt. Dies stellte für einige Besucher, die der englischen Sprache weniger mächtig sind ein Hindernis dar, obgleich das häufigste Wort der neuen Textfassung, „Fuck“, jedem geläufig sein dürfte, wie auch das zitierte „To be or not to be, that is the question“.

Als Film ist nachzuerleben, wie Konstanze (Kathryn Lewek) und Blonde (Siobhan Stagg) aus dem Berliner Tiergarten von einer fliegenden Untertasse entführt worden waren.

Der belgischen Philosoph Bruno Tackels attestiert Garcías Arbeiten, sie versuchten allesamt die Klärung der Frage, „wie eine Gesellschaft so zivilisiert, so poliert, aber gleichzeitig so barbarisch sein kann, dass sie keine Gelegenheit auslässt, ihre Grausamkeit unter Beweis zu stellen“. Entgegen diesem Statement wirkt Rodrigo Garcías erste Opernregie extrem unpolitisch und beliebig. Die Arie „Martern aller Arten“ (eine der nachdrücklichsten Szenen in Bieitos Inszenierung dieser Oper) wird mit Zuckerwatte schleckenden, teils halb- teils ganz nackten jungen Damen bebildert, die sich räkeln und gegenseitig streicheln.

Das aufwändig gestaltete, auf überhohen Reifen gelagerte, obendrein an vier Punkten hydraulisch veränderbare Auto dürfte den Löwenanteil der Ausstattung verschlungen haben (Bühne und Video: Ramon Diago). Für die Kostüme, soweit vorhanden, zeichnet der Modeschöpfer Hussein Chalayan verantwortlich. Im zweiten Teil geht der als Projektionsfläche dienenden Kugel nach einem Crack-Experiment im Labor die Luft aus.

Epische Theatermomente erfolgen zweimal, wenn Bassa ein blauer, beschrifteter Sack übergestülpt wird: die Aufschriften wechseln dann zwischen DESIRE und ERROR, DREAM und DRAMA.

Auf Belmontes Vorschlag gegenüber seinem Chemiker-Kollegen Pedrillo, etwas zu singen, möglichst von Prince oder Queen, entscheidet sich Pedrillo dann doch für Mozart, mit der Romanze Nr. 18 vom Mädel im Mohrenland (bei dieser dezenten Nummer liegt James Kryshaks Tenor richtig), wozu ihm Belmonte eine E-Gitarre leiht.

Die Flucht im Gefährt verhindert Osmin (Tobias Kehrer, mit trefflich fundiertem Bass), der im Duett „Vivat Bacchus“ Nr. 14 bei seiner Arie von sechs nackten Cheerleaders umgeben war, durch die Explosionen einer Reihe von Feuerwerkskörpern.

Die Deutsche Oper hatte angekündigt, der Regisseur werde Bilder „für Mozarts Musik finden [...], wie sie heutiger, leuchtkräftiger und verstörender nicht sein können“. Utopisch besingt Mozarts Musik die ewig unzertrennlich treue Liebe, an die der Komponist als Mensch, durch anderweitige Erfahrungen geprägt, offenbar selbst nicht wirklich geglaubt hat. In diesem Zweifel folgt ihm der Regisseur, der im Quartett des sich seiner Treue zunächst in Frage stellenden, dann bestärkenden Doppel-Liebespaares durch weitere männliche und weibliche Partner für Belmonte, Konstanze, Pedrillo und Blonde eine Abfolge von Kombinationen in Szene setzt, die von den Protagonisten trefflich singend und im Spiel exzentrisch ausgelebt werden.

Nach einer Dialogszene zwischen Bassa und Konstanze („Love storm in my pussy – Love storm in my anus“) im ersten Akt, ist dieses Quartett die best gearbeitete Nummern des zweigeteilten Abends.

Bassa beschimpft die Flüchtlinge als „Assholes“, lässt sie dann aber doch ziehen; denn in seiner/ihrer angefügten Schlussansprache argumentiert sie, dass Konstanze sowieso an der nächsten Tankstelle umkehren und zu ihr zurückkommen werde – vielleicht sogar alle vier, „denn wo kann es schöner sein als hier“.

Großartige Sängerdarstellerleistungen boten insbesondere der Sopranistinnen Kathryn Lewek und Siobhan Stagg, die ihre Arien gymnastisch darbieten und Partner singend anspringen.

Ostentativ gab es nach der Pause Applaus für GMD Donald Runnicles, obgleich dessen Leistung hier in erster Linie darin bestand, der neuen Szene mit viel Robustheit zu entsprechen und so zugleich den erschwerten Bedingungen des für Mozart-Opern klanglich wenig geeigneten Raums der Deutschen Oper durch Lautstärke entgegenzuwirken.

Wesentlich schwächer als sonst war die Wirkung des von William Spaulding einstudierten, in der Aktion statischen Chores, der dafür auch einige Buhrufe einstecken musste, – während die 17 jungen Statistinnen, die Solist*innen und der Dirigent ausschließlich Zuspruch ernteten.

Nach einem arg gestrecktem Schlussapplaus senkte sich der Vorhang, ohne dass sich ein Mitglied des Regieteams verneigt hätte. Das löste massive Proteste aus, schließlich ist es nicht nur ungewöhnlich, sondern insbesondere hier unverständlich, da der – „zum Aufwühlendsten, Extremsten, was die europäische Theaterszene zu bieten hat“ angekündigte – argentinische Regisseur auch im Programmheft mit einer Hommage, „Freibrief für Rodrigo García“, gefeiert wird.

  • Weitere Aufführungen: 22., 25., 28. Juni. 1., 6. Juli 2016.

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