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Wohlfeile Obszönisierung: „Il trionfo del Tempo…“ – Calixto Bietitos jüngster Streich in Stuttgart. Foto: Sebastian Hoppe
Wohlfeile Obszönisierung: „Il trionfo del Tempo…“ – Calixto Bietitos jüngster Streich in Stuttgart. Foto: Sebastian Hoppe
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Das Karussell als Sinnbild: Calixto Bieito inszeniert Händels „Il trionfo del Tempo …“ am Staatstheater Stuttgart

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Es ist zumindest marktschreierisch (wenn nicht irreführend), „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ dem dunklen Kontinent der musica proibita zuzuschlagen. Das Kammer-Oratorium mit dem etwas sperrigen Titel „Der Triumph von Zeit und Erkenntnis oder Enttäuschung“ wurde 1707 vermutlich unter Konzertmeister Arcangelo Corelli in Rom uraufgeführt, als Papst Clemens XI. in theologischem Kalkül dort Opernvorstellungen aus dem öffentlichen Leben verbannt hatte. Seit dem „Heiligen Jahr“ 1700, das von Schuldbekenntnis, Reue und Ablass geprägt sein sollte, waren die Theater geschlossen. Repräsentative musiktheatrale Produktionen fanden in geistlichen Seminaren und Kollegien statt (die besseren Kreise mussten also nicht wirklich Diät leben – man trank den Wein heimlich und predigte öffentlich Wasser).

Georg Friedrich Händel erwies sich – nicht anders als seine ebenfalls im Umfeld der päpstlichen Residenz weilenden Kollegen Alessandro Scarlatti und Antonio Caldara – als anpassungsfähig und verlegte sich aufs Schreiben geistlicher oder religiös getönter Werke. Indem er sich eines moralisierenden Librettos von Benedetto Kardinal Pamphilj bediente, das viel kluge Sentenzen über das Leben an und für sich enthält, über Illusionen und Schmerz, Tränen der Rechtschaffenen, Reue und reine Liebe, gab es ohnedies keine Probleme mit den päpstlichen Zensur- und Polizeiinstanzen. „Il Sassone“, der teuflisch erfolgreiche Sachse, lieferte das, was er so oder so ähnlich auch jedem anderen Theater-Impresario angedient hätte. Das Melodramma sacro unterscheidet sich in seinem gesamten Zuschnitt nur wenig von der im ganzen übrigen Europa gepflegten opera seria jener Jahre.

Ein glatt verspiegeltes Kettenkarussell wurde am Stuttgarter Staatstheater dem Singen und Treiben von vier allegorischen Figuren zugesellt – der Schönheit und dem ebenfalls weiblichen Vergnügen (Piacere) sowie den Partien des Tempo (also: der Zeit) und des eigentlich gleichfalls männlich definierten Disinganno (was sowohl Enttäuschung als auch Erkenntnis bedeutet). In Stuttgart wird diese Partie nicht von einem Altus bestritten, sondern von der Mezzosopranistin Marina Prudenskaja – durch diese satanistisch ausstaffierte Gegenspielerin wird der Bellezza (und den Zuschauern) die zeitlich begrenzte Reichweite aller Schönheit vor Augen geführt, Verderblichkeit und Vergänglichkeit. Demonstrativ ist schon am Anfang eine angestaubte runzlige Statistin mit von der Partie. Der Regisseur Calixto Bieto führt Disinganna einem traurigen Triumph zu: sie wird von Tempo, dem dominanten Faktor der Versuchsanordnung, kurz vor Schluss in einem blauen Müllsack erstickt und kreiselt zuletzt, umgeben von einer Horde dement-glücklicher Alter, starr in eines der Karussell-Sesselchen gepresst, der Ewigkeit entgegen. Tempo aber, der von Charles Workman als Otto Normalbürger gezeigt wird, hält Bellezza in paradiesischer Unschuld umfangen. Die Sopranistin Camilla de Falleiro hat sich ihrer Kleider entledigt und auch ihm das Hemd aufgeknöpft.

Mit Ezgi Kutlu bekam die Schönheit für ihre Blütenträume und Lernprozesse eine in jeder Hinsicht attraktive Parteigängerin zugesellt. Diese Verkörperung von Vergnügen und Lust erscheint in wechselndem Outfit von Entertainment-Stars, bekennt sich körperbetont zur Bi-Sexualität, masturbiert recht taktlos, spreizt sich unter einer Feder-Boa und singt mit naivischer Direktheit durchaus animierend.

Das Drehmoment auf der Bühne setzt sich auch in der zweiten Halbzeit fort. Da bietet Il Tempo eine Runde Russisch Roulett an. Calixto Bietos Bebilderung und Bevölkerung der Bühne folgt strikt den vom Text vorgegebenen Stichworten in eine Sphäre der heutigen Assoziationen (der gegenreformatorische theologische Hintergrund des Oratoriums geht ihm an der Glatze vorbei). Ist im Text von der Urne die Rede, dann wird eben mit einer Urne auf der Bühne hantiert und die Asche an die Wand gepudert. Mit seiner Technik der wohlfeilen Obszönisierung und kriminellen Brutalisierung möbelt er die historische Beschaulichkeit auf. In vorwiegend säkularisierten protestantischen Milieus wie Hannover, Basel oder Stuttgart hat er mit dieser Art des von nächtlichen Fernsehprogrammen inspirierten Inszenierens allemal Erfolg (man will ja nicht prüde sein, goutiert das nackte Fleisch ebenso wie die Teilhabe an Gewaltphantasien). Auch wenn die instrumentale Komponente einer Aufführung nicht durchgängig das Gelbe vom Ei ist wie das, was die handverlesenen Mitglieder des Staatsorchesters Stuttgart unter Anleitung von Sébastian Rouland dahergegeigt haben – am Nesenbach hält man häufiger einmal ein Stürmchen im Wasserglas für das Wehen des Weltgeistes.

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