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Giulio Alvise Caselli (Pelléas), Cathrin Lange (Mélisande). Fotos: A.T. Schaefer
Giulio Alvise Caselli (Pelléas), Cathrin Lange (Mélisande). Fotos: A.T. Schaefer
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Edle Familie als Kampfzone – Differenzierte Deutung von Debussys „Pelléas et Mélisande“ im Theater Augsburg

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„Ich bin nicht glücklich“ singt die zauberhaft zwischen Realität, Trauma und Traum geisternde Kindfrau Mélisande – in der Uraufführung 1902 sollen Stimmen im überfordert verständnislosen Publikum zurückgerufen haben „Wir auch nicht!“ Davon kann im Theater Augsburg keine Rede sein.

Das war zunächst Dirigent Roland Techet und den Augsburger Philharmonikern zu danken. Zwar ist das Klischee von „Debussys Grau-in-Grau-Gewabere“ längst widerlegt, doch gelang Techet und dem Orchester die Spannweite von zart irisierendem Tongewebe bis zu schmerzlich lautem Fortissimo, das zu jenem „Theater der Grausamkeit“ gehört, das Pierre Boulez in den 1970er Jahren im Werk offenlegte und damit die Wiederentdeckung einleitete. Denn immer wieder wechseln Gefühlsnuancen zwischen den Personen und dementsprechend verändert Debussy Orchesterstimmen sowie Farben und türmt aus dem oft wie „mühsam gebändigt“ klingenden Piano erschreckende Ausbrüche auf.

Die Kampfzone

Denn parallel zu Sigmund Freud haben Autor Maurice Maeterlinck und Komponist die Familie als „Kampfzone“ entdeckt: der greise und machtlos edle König Arkel offenbart auch strikt patriarchalische Züge; sein Enkel Golaud vereint ritterliche Virilität und schließlich eifersüchtige Totschlagmentalität; in Pelléas wechseln Lebenslyrik und Weltflucht; Golauds Sohn Yniold erlebt Vernachlässigung und Erwachsenenherrschsucht, speziell von Geneviève, die zwischen Grande Dame und Herrin des Hauses changiert. Dafür hielt im Orchester bis in den 5.Akt die Konzentration an, so dass Mélisandes Verlorenheit von der Solo-Oboe beklagt, dass das finale Liebesbekenntnis zwischen Pelléas und Mélisande von der Soloflöte überhöht wurde. Dieses breite Klangspektrum sollte am Ende künftig noch mehr gefeiert werden.

Völlig zu Recht rauschte der Beifall für die acht Solisten. Vladislav Soldyagins Arkel gestaltete mit beeindruckend schattiertem Bass Altersgüte, Restherrschsucht und peinlich abstoßende Greisenerotik. Dong-Hwan Lees Golaud verströmte mal Bariton-Wärme, mal Brachialität. Zur alle überragenden, glänzenden Bühnenerscheinung Jennifer Arnolds als Geneviève kamen gezielt schneidend helle Mezzotöne. Guilio Casellis Pelléas war mit hellem jungmännlichen Bariton und dem Requisit Rucksack stets im Aufbruch „woandershin“. Domsingknabe Jan Enderle meisterte die Ansprüche des mal vernachlässigten, mal bedrängten Yniold beeindruckend. Dann musste sich der Beifall teilen, denn Dirigent wie vor allem Regisseurin Yona Kim hatten sich zu einer psychologisch-inszenatorisch motivierten Aufspaltung Mélisandes entschlossen.

Yucca-Palme und Polsterliege

Dafür hatte Christian Schmidt einen seiner fabelhaften Bühnenräume geschaffen: einen bühnengroßen, einst hochherrschaftlichen, jetzt angeältelten Raum mit halb vertrockneter Yucca-Palme, mit Esstisch und Polsterliege; in der Decke eine milchiges Licht gebende Rundöffnung; über dem Souffleurkasten die Wasseroberfläche eines Brunnens. Doch die Rückwand dieser Realität wurde oft durch Kai Luczaks feine Lichtregie durchscheinend, mitunter durch Hochfahren der Stoffwand sogar ins Spiel als „andere Ebene“ und „zweite Welt“ einbezogen.

Wirklichkeit und Imagination

Damit gelangen Regisseurin Kim beeindruckende Wechsel zwischen Wirklichkeit und Imagination, getragen von einer heute selten gewordenen Qualität der Personenregie: langsame, aber eben dadurch erkennbar nachvollziehbare Feinzeichnung – gipfelnd in der anrührenden Szene, dass Pelléas und Mélisande ihre Liebesbegegnung „in der Grotte“ unter dem Esstisch mit der Tischdecke „erleben“. Kims Werkverständnis verführte sie aber auch zu Überzogenheiten: ihre Mélisande 1 kommt aus einer Mauernische wie ein Kokain-geschädigtes Partygirl in die Arkel-Welt hereingeflüchtet – sind also ihre Hypersensibilität, Körperaversion und dann doch zarte Liebe  zu Pelléas nur Reaktionen einer Drogengeschädigten, die noch dazu in eine „Mélisande 2“ schizoid aufgespalten wird? Auch ihr leichtsinniges Spiel mit Golauds Ehering und den Ringverlust im Brunnen deutet Kim um: ihre Mélisande lässt den Ring zurück, Yniold findet ihn und könnte also alle daraus erwachsenden Verhängnisse verhüten. Am Ende kommt sogar eine „Mélisande 3“ aus der Mauernische - zur Wiederholung des Ganzen? Da verbiegen Kim und Dramaturgin Hahn Werkinhalte unergiebig, ohne durch Tarot-Karten, Herbstblätter und Bühnenschnee zu gewinnen. Doch wie Cathrin Lange und Stephanie Hampl die dissoziative Psyche der Titelfigur in wechselnden Einzel- oder Doppelungsauftritten meisterten, verdiente mehr als den stürmischen Applaus, der (wohl) Cathrin Lange gehörende glasklare Kindfrau-Sopran sogar etliches „Brava!“.

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