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Verknüpfung bei Synästheten. Abb.: Klinikum rechts der Isar
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Einfach besser vernetzt: Erste Ansätze zu eine gezielten Förderung synästhetisch begabter Kinder

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Wenn der zehnjährige Enrico im Aurelius-Knabenchor singt, sieht er tanzende Formen. Bei falschen Noten ändert sich das Bild. Für Enrico ist diese Koppelung ganz normal. Von Stimmbildnerin Alexandra Kirschner erfuhr er, dass nicht alle sehen was sie singen.

Die Koppelung mehrerer Sinneseindrücke, die Synästhesie, galt früher als Krankheit: Das Phänomen der Buchstaben mit Geschmack, der riechenden Farben und farbigen Klänge war suspekt. Heute ist Synästhesie als Fähigkeit anerkannt. Ihre Erforschung boomt, inzwischen ist sie sogar messbar. Die Netzwerke verbundener Hirnregionen, die für spezielle Aufgaben zuständig sind, sind „unter Ruhe vielfach stärker verknüpft“, fand vor kurzem das Klinikum rechts der Isar zusammen mit dem Forschungszentrum Jülich heraus: „Diese Ergebnisse legen zudem nahe, dass die gekoppelte Hirnaktivität unter Ruhe die Phänomenologie der menschlichen Wahrnehmung direkt beeinflusst.“Möglichkeiten synästhetischen Erlebens gibt es viele. Über 60 Formen hat Sean A. Day, der Präsident der „American Synesthesia Association“ in seiner „Synesthesia List“ zusammen getragen. So können akustische Erstempfindungen mit visuellen oder taktilen Zweitempfindungen gekoppelt sein, Visuelles kann Hör- oder Geruchseindrücke auslösen, Gerüche bekommen Gestalt oder Gefühle werden mit Gerüchen kombiniert. Bei manchen Synästhetikern wurden korrelierende Eigenschaften wie Hypersensivität oder überdurchschnittliches Erinnerungsvermögen beobachtet. Die permanente Koppelung von Zahlen mit bestimmten Farben zum Beispiel kann dabei Gedächtnisstütze sein. Das ist in der Schule von Vorteil.

Synästhetisch begabte Kinder zu fördern, dass sie ihre Gabe produktiv beim Lernen und für ihre Kreativität einsetzen können, ist deshalb eine Schlussfolgerung der ersten internationalen Fachkonferenz zum Thema „Synästhesie bei Kindern“, die im Mai vom Musischen Zentrum der Universität Ulm im Zusammenarbeit mit der „Deutschen Synästhesie-Gesellschaft e.V.“ veranstaltet wurde. Ein englischsprachiger Tagungsband soll dazu noch dieses Jahr erscheinen. An den beiden Konferenztagen, zu denen Wissenschaftler der Synästhesie-Gesellschaften aus verschiedenen Ländern und Disziplinen geladen waren, wurde zunächst gesammelt, um Grundlagen für die Forschung zum Thema zu schaffen, sagt Christine Söffing, wissenschaftliche Leiterin der Tagung und zweite stellvertretende Vorsitzende des Vereins. Geplant seien Untersuchungen über das Lernverhalten, Langzeitbeobachtungen, auch über die Nachteile der synästhetischen Begabung.

So können Konflikte entstehen, wenn beispielsweise das Schulheft nicht in der Farbe eingebunden wird, die das synästhetische Empfinden des Kindes dem Fach zuordnet: Es kann dann „sein eigenes System nicht anwenden“, erklärt Christine Söffing. Das erinnert an die Schwierigkeiten, die mancher absolut hörende Musiker mit den abweichenden Stimmungen der historischen Aufführungspraxis hat.

Die Frage ist, wie mit dem Konflikt umgegangen wird. Gleiches gilt für die Entwicklung: Da es so viele Synästhesie-Formen gibt, ist eine kollektive Förderung schwierig. Gefordert sind deshalb die Eltern, Lehrer und die Ärzte. Zunächst gilt es, die Gabe zu erkennen, das Kind zu bestärken: Oft reagiert die Umwelt befremdet, wenn das „A“ blau ist oder etwas punktiert schmeckt. Im Durchschnitt ist ein Kind pro Schulklasse synästhetisch begabt, weiß Söffing. Außerdem scheint Synästhesie erblich zu sein, denn sie tritt gehäuft in Familien auf.  „Das ist überall gleich“, weiß Söffing durch ihren Kontakt zu anderen Synästhesie-Gesellschaften weltweit.

Die deutsche Gesellschaft arbeitet derzeit mit Synästhetikern, Interessierten und Fachleuten aus 33 Ländern zusammen. Ein Internetforum zum gegenseitigen Austausch ist geplant, ebenso eine zweite Tagung. Dabei steckt oder steckte wahrscheinlich in jedem ein Quantum Synästhetik: Bis zum Alter von drei Monaten seien alle Neugeborene Synästhetiker, da sie laut einer Säuglingsstudie von Daphne Maurer von der MacMaster University in Ontario das Sehen, Hören und Berühren als Wahrnehmungsgemisch erleben.

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