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Französische Kleinstadtidylle: Giacchino Rossinis „Le Comte Ory“ am Opernhaus Zürich

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Das Theater nimmt seine Stoffe, wo es sie findet – auch wenn manche Ort und Umstände mitunter anrüchig finden. In diesem Fall: Die zündenden Ideen für das Brio und den Situationswitz Rossinis kamen dem großen Theaterdichter Eugène Scribe 1828 durch den Blick in eine Romance von Pierre-Antoine de La Place aus den besten Tagen des Marquis de Sade. Insbesondere auch die wunderbare Parodie auf die Gewitterszene zu Beginn von Willibald Glucks „Iphigénie en Tauride“ oder den Alternativentwurf zur nächtlichen Park-Szene im 4. „Figaro“-Akt von da Ponte und Mozart, bei der ein Graf die Hände an einem Objekt seines Begehrens hat, diese Frau aber zugleich vom Pagen bearbeitet wird. Auch hier geht es in aparter Weise um Verstellung und Verkleidung, Blindheit und überraschend geöffnete Augen in „Liebesdingen“.

Der Graf Ory, ein jüngerer Cousin des spanisch-italienischen Conte Almaviva und des im Adelsrang wohl etwas niedriger rangierenden Freiherrn Don Giovanni, macht sich in der ersten Halbzeit der nach ihm benannten Oper als falscher Eremit an die weibliche Jugend eines näher nicht bestimmten französischen Fleckens heran. Im zweiten Teil mutiert er, bedingt glaubwürdig, zur Priorin einer Walfahrerinnengruppe. Diese, so wird geltend gemacht, als man bei heftigem Unwetter am Schlosstor der schönen und extrem tugendsamen Gräfin Adèle Einlass begehrt, sei zusammen mit anderen älteren Nonnen Opfer einer Attacke eben jenes übel beleumundeten Ory und seiner wilden Kerle geworden. Die nächtens herumgeisternden frommen ‚Schwestern’ (die Männer-Elite des Züricher Opernchors und der bärenstarke Tenor Javier Camarena), fühlen sich bei der bemerkenswert arglosen Adèle rasch sehr wohl, zumal eine der 14 Scheinheiligen rasch den Zugang zum Weinkeller des Schlossherrn erschließt. Dieser weilt, zusammen mit den anderen Männern der Grafschaft, eben noch im Orient, um dort Sieg auf Sieg über die Islamisten zu erringen, befindet sich jedoch bereits auf dem Rückweg von der Mission. Also ist Gefahr im Vollzug.

Christian Fenouillats ironisch-realistisches Bühnenbild gibt Einblick in das zurückgebliebene Frankreich der 1950er-Jahre: erhöht im Hintergrund ein trostloser, meist menschenleerer Straßenzug mit den typischen zweigeschossigen Häusern. Davor und tiefer ein verkommenes Flußufer, dessen Befestigung erneuert wird. Baustelle also. Und in ihr der Wohnwagen des Eremiten, in dem die Frauen Zuspruch, Trost und andere nützliche Zuwendung erfahren. Auch Adèle, auf die es nicht nur der von Rebeca Olvera exzellent dargestellte Page abgesehen hat, sondern auch der Klausner. Indem sich das Dach seines lebenspraktischen Gefährts hebt, kommt das Leopardenfell-Muster des Sofas zur Wirkung und die Puffbeleuchtung. Aber die Gräfin lässt sich nicht so leicht erweichen und der lüsterne Therapeut wird enttarnt.

Moshe Leiser und Patrice Caurier tauchen die kleine Stadt in Blau-weiß-rot. Und das von Muhai Tang dirigierte Orchestra La Scintilla der Oper Zürich greift lustvoll in die Vollen. Und längst ist vergessen und vergeben, dass es sich bei dieser Musik weithin um recycelte Teile der Partitur zu dem zu spät gekommenen und daher vom Opernleben zunächst bestraften Dramma giocoso „Il viaggio a Reims ossia L'albergo del giglio d'oro“ handelt.

Die Attacken auf die in Unschuld auf die Rückkehr ihrer Männer wartenden Gattinnen im allgemeinen und Adèles im besonderen gehen, wie erwähnt auf dem Schloss weiter. Im Ambiente der Nachkriegszeit – Spitzendecken und ein Portrait General de Gaulles dürfen so wenig fehlen wie der Flügel und die dünnen Teetassen – verschärft sich der Geschlechter-Kampf: Eroberung contra Résistance, Selbstbehauptung gegen Unterwerfung, Bestehen auf Regeln versus Regelbruch.

An diesem Punkt hätte das Regisseurs-Duo Leiser/Caurier womöglich die heiter goutierte Idylle der Zeit vor der sexuellen Revolution der 60er und 70er Jahre verlassen sollen, um dem Stück etwas von der Schärfe zurückzugeben, das es bei der Uraufführung 1828 in Paris unter der Kutte des Burlesken gehabt haben dürfte. So aber geriet das Unternehmen Ory in Zürich höchst konsensfähig und unbeschwert von Problemen. Auch die technischen Mängel bei den Koloraturen von Cecilia Bartoli, der Adèle, fielen da nicht weiter ins Gewicht. Großer Beifall auch für sie, insbesondere aber für Camarena, den Helden der Titelpartie.

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