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Marta dreifach: Sonja Mühleck in Katharina Wagners Mainzer „Tiefland“-Inszenierung. Foto: Martina Pipprich
Marta dreifach: Sonja Mühleck in Katharina Wagners Mainzer „Tiefland“-Inszenierung. Foto: Martina Pipprich
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Hochlandbrand statt Götterdämmerung: Katharina Wagner entdeckt in d'Alberts „Tiefland“ ihren Urgroßvater

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Vielleicht hat es erst die Skandale der letzten Jahre gebraucht, um offen zu sagen und zu zeigen, worum es in Eugen d’Alberts Oper „Tiefland“ letztlich geht: Um den sexuellen Missbrauch einer Abhängigen nämlich – und nicht um dumpfe, völkisch angewehte Klischees von moralisch gesundem Hochgebirge und sündiger Tiefebene, wie sie noch immer in den Opernführern und -rezensionen herumspuken. Katharina Wagner hat „Tiefland“ nun am Staatstheater Mainz inszeniert – und darin vor allem ihren Urgroßvater Richard Wagner gefunden.

Schon die literarische Vorlage der Oper, das realistische Drama Terra Baixa des katalanischen Autors Àngel Guimerà (1845-1924), war ein Riesenerfolg in mehreren Sprachen. Und man darf wohl annehmen, dass es dem Dresdener GMD Ernst von Schuch als Anreger der Opernbearbeitung und d’Alberts Librettisten Rudolph Lothar nicht darum ging, das Schauspiel als bloßen Aufhänger für eine Oper zu nehmen, sondern darum, die Handlung und ihre Personen auf der Opernbühne wahrhaft zum Leben zu bringen. Lothar hat Guimeràs Vorlage gestrafft, gekürzt und ergänzt – aber so, dass das Typische einer Missbrauchssituation klar und mit psychologischem Tiefgang gezeichnet wird. Die Dynamik der Handlung entfaltet sich dabei wie in einem guten Kriminalstück parallel zur Aufdeckung der Hintergründe. Es lohnt sich, die Konstellation nachzuzeichnen.

Da ist Marta, die seit ihrem 13 Lebensjahr vom Gutsherrn Sebastiano sexuell ausgebeutet wird. Wenn sie sich wehrt, hält er ihr vor, dass er es war, der sie und ihren Stiefvater aus der Obdachlosigkeit in die Mühle geholt hat. Tatsächlich war er der erste Mensch, von dem sie überhaupt Zuwendung erfahren hat. Und da ist Pedro, der unerfahren-arglose Hirte von der Pyrenäen-Hochalpe, den Sebastiano nötigt, mit Marta pro forma die Ehe einzugehen, damit seiner eigenen Heirat mit einer reichen Erbin nichts im Wege steht - ohne dass er das Verhältnis deswegen abzubrechen gedenkt. Unter dem Klatsch und Tratsch der Gutsbewohner wird die Trauung vollzogen. Doch Sebastianos Plan scheitert unerwartet. Denn Pedro, der die Vorgeschichte nicht kennt, liebt Marta aufrichtig, und sie fängt an, Vertrauen zu fassen. Seine Ankunft und die Anwesenheit des Gemeindeältesten Tommaso aus der Hochgebirgsgemeinde verändern aber auch das Kräfteverhältnis auf dem Gut. Moruccio, der Mühlknecht, löst sich aus der Abhängigkeit von seinem Herrn und berichtet Tommaso, der nichtsahnend die Ehe arrangieren half, von Sebastianos Verhältnis mit Marta.

Tommaso zeigt Zivilcourage und stellt Sebastiano nicht nur zur Rede, sondern benachrichtigt auch den künftigen Schwiegervater. Marta beichtet dem Alten sehr klar und dezidiert ihre Lebensgeschichte und ihre Schuldgefühle und erfährt dadurch nicht nur die Möglichkeit von Vergebung, sondern auch die Perspektive, sich mit Pedro auszusprechen. Der jedoch misstraut ihr inzwischen. Verzweifelt, voller Selbsthass und Todessehnsucht, provoziert sie ihn, bis er sie mit seinem Messer verletzt. Sein Erschrecken darüber führt zur Versöhnung und zum Entschluss, auf der Hochalpe einen gemeinsamen Anfang zu wagen. Sebastiano aber will Marta nicht ziehen lassen. Mit der Re-Inszenierung der ersten Begegnung („Tanze für mich“) versucht er sie noch einmal in seinen Bann zu zwingen. Er provoziert damit den Zweikampf, in dem Pedro, der schon einen Wolf mit bloßen Händen erwürgt hat, Sieger bleibt.

Man darf annehmen, dass der enorme Erfolg, den sowohl Guimeràs Schauspiel als auch d’Alberts Oper beim Publikum hatten, zu einem Teil daher rührt, dass nicht wenige Zuschauer vergleichbare Situationen aus eigenem Erleben oder Beobachten kannten oder sich zumindest gut vorstellen konnten. Auf der Bühne kamen einschneidende Erfahrungen zur Sprache, die gesellschaftlich tabuisiert waren. Und der Blick auf die bekannt gewordenen Skandale der letzten Jahre zeigt: Enge und Abhängigkeiten in einem katholischen oder reformpädagogischen Internat etwa unterscheiden sich strukturell wenig von der in Tiefland geschilderten Gutsherrschaft. Dass von der Oper aber eine kathartische, psychologisch aufbauende Wirkung ausgehen konnte, liegt weniger in der Entlarvung und Bestrafung des Bösewichts, sondern darin, dass Marta, das Opfer, aus dem Kreislauf von Abhängigkeit und Selbsterniedrigung ausbricht und die Opferrolle ablegt.

Katharina Wagner lässt in ihrer Inszenierung im Großen Haus des Mainzer Staatstheaters keinen Zweifel daran, dass es um Missbrauch geht. Sebastianos sexuelle Handlungen an Marta werden mehrfach angedeutet und zugleich an als Marta-Doubles verschiedener Größe und Altersstufen aufgemachten Puppen und Statisten symbolisiert. Eine ganz junge Marta fährt bisweilen als Reminiszenz einer weniger belasteten Kindheit auf ihrem Dreirad umher. Marta selbst tritt sogleich als schwer traumatisierte Person in Erscheinung. Sie ritzt sich selbst mit dem Messer und bedroht aggressiv ihre Freundin Nuri. Bei d’Albert ist Nuri ein Kind, hier ist sie eine körperlich und geistig behinderte junge Frau, die Tatjana Charalgina auf anrührende Weise verkörpert. Noch anspruchsvoller ist die sängerische und schauspielerische Herausforderung für Sonja Mühleck als Marta. Gemäß dem Regiekonzept bewegt sie sich permanent am Rande der Selbstpreisgabe und wirkt manchmal wie eine von Sebastiano geführte Marionette. Bis auf eine kurze Phase des Aufbegehrens gegen Ende lässt sie sich nicht nur körperlich hängen, sondern singt dazu auch ihre Partie entsprechend kraftlos und unartikuliert – ein Kunststück für sich! Modell gestanden für diese Deutung hat laut Aussage der Regisseurin Wagners Kundry, die im Parsifal abwechselnd als Verführerin und Büßerin zwei Herren dient und den Tod als Erlösung aus diesem Zwiespalt ersehnt. Da liegt der Fall bei Marta nun doch etwas anders.

Natürlich hat auch der Naturbursche Pedro etwas von Wagners Siegfried oder Parsifal. Doch wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass er zwar eine wohnort- und berufsbedingte Unerfahrenheit an den Tag legt, dafür aber sehr wach ist im Erspüren von Situationen und Erfassen von Gefahren, reaktionsschnell und durchtrainiert, zudem getragen von einer gefestigten katholischen Religiosität – was ihn befähigt, die schwierige Situation im Tal mit Erfolg durchzustehen. Obwohl die Regisseurin seine Hilflosigkeit in den Vordergrund rückt, versteht es Alexander Spemann doch, die Figur mehrschichtig anzulegen, und seinem Heldentenor starke lyrische Facetten abzugewinnen. Katharina Wagner und ihre Bühnenbildnerin Monika Gora lassen ihn im Vorspiel in einem weißen Zelt vor einem angedeuteten Hochgebirgspanorama wohnen. Dass er tastend durch die Zeltwand mit der Außenwelt kommuniziert, soll seine Isolation illustrieren. Beim Abstieg ins Tiefland landet er in einem altertümlichen Vergnügungspark mit Geisterbahn und Karussell und Leuchteffekten. Dieser wirkt sehr pittoresk, gibt aber kaum sinnvolle Deutungsperspektiven her.

In dieser Zauberwelt herrscht Sebastiano (Heikki Kilpeläinen), der zunächst als Herrenmensch in Lederuniform, dann als katholischer Bischof, dann aber für den Rest der Stückes als mächtiger Zauberer erscheint. Sein Urbild, man ahnt es, ist Wagners Klingsor. Und wie dieser sein Burgpersonal, so steuert Sebastiano die Schausteller in seinem Lunapark. Auch die drei Klatschbasen stehen ihm zu Diensten. Erinnern sie anfangs noch an die Drei Damen der Zauberflöte, an Wagners Rheintöchter oder Nornen, so profilieren sie sich immer mehr als Hexen wie in Verdis Macbeth. Zunehmend vollführen sie sexuelle (Ersatz-)Handlungen untereinander und an den auf der Bühne gestapelten Menschenpuppen – womit das Klischee vom sündigen Tiefland durch die Hintertür wieder Einzug erhält. Sehr weit hergeholt wirkt die Szene, in der Pedro von Sebastiano mit einem zufällig vorhandenen Gewehr zurückgedrängt wird, aus dem sich zufällig ein Schuss löst, der zufällig den rebellischen Moruccio trifft, der zufällig genau in diesem Moment den Wolf in der Geisterbahn spielt, wozu ihn anscheinend die drei Hexen genötigt haben.

Tommasso, von Alter und Funktion her eigentlich eine Autoritätsperson, sitzt den ganzen Abend über als trauriger Clown nahezu unbewegt in einem Müllcontainer und wirft Briefe, die er gerade erst zugeklebt hat, in den Abfall. Dementsprechend hat man nicht den Eindruck, dass er auf den Gang der Dinge in irgendeiner Weise Einfluss nimmt. So sieht man denn an diesem Abend, wie unter absonderlichen Leuten absonderliche Dinge passieren, während das Leben doch lehrt, dass diese absonderlichen Dinge unter ganz normalen Menschen geschehen. Handwerklich ist die Inszenierung insgesamt sauber angelegt; die Darsteller setzen das ihnen auferlegte Regiekonzept allesamt überzeugend um, und die Gänge und Aktionen auf der Bühne atmen mit d’Alberts Musik, die vom Philharmonischen Staatsorchester Mainz unter GMD Catherine Rückwardt ebenso feinfühlig wie präzise realisiert wird.

Am Ende rammt Marta dem sterbenden Sebastiano Pedros Hirtenstab in den Bauch und zwischen die Beine; Klingsors bislang versäumte Entmannung wird damit sozusagen nachgeholt. Das hindert Marta allerdings nicht, sich danach liebevoll an den Toten zu kauern, während der allein gelassene Pedro Hilfe suchend umherblickt und oben im Gebirge sein Zelt abbrennen sieht - Hochlandbrand also statt Götterdämmerung. Spätestens hier reißt der rote Faden der Erzählung unter der Last der szenischen Verweise. Dass Katharina Wagner zu d’Albert, einem der ersten erfolgreichen Vertreter eines nachwagnerischen Musiktheaters, vor allem Wagner einfällt, zeugt von ihrer Identifikation mit dem Erbe ihres Urgroßvaters und erfreut die mit dem Dechiffrieren beschäftigten Experten. Ob aber dem Musiktheater heute mit einem so hohen Grad an Selbstreferentialität gedient ist, wird noch zu diskutieren sein.

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