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Otto Katzameier (Ricardo Estapé) Photos: Javier del Real
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Im Koma komponiert – Pilar Jurados „La página en blanco” am Teatro Real Madrid

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Erstmals präsentierte das Teatro Real in der spanischen Hauptstadt die Oper einer Frau – eine neue große Arbeit der 1968 geborenen Sopranistin, Dirigentin und Musikpublizistin Pilar Jurado. Jurado schrieb das Libretto für ihr zunächst surrealistisch anmutendes Künstler- oder auch Neurologen-Stück selbst und würzte es mit Science-fiction-Momenten.

Auch operierte sie – wie Jacques Offenbach in „Hoffmanns Erzählungen“ oder Richard Strauss in „Ariadne auf Naxos“ – mit einer (zunächst noch nicht vollendeten) Oper in der Oper: „La página en blanco” begleitet den letzten Lebensabschnitt des (fiktiven) Komponisten Ricardo, der dem Intendanten Gérard Musy eine Oper liefern will und muß. Diese Herausforderung scheint von ihm ein Äußerstes zu fordern. Das ist ein höchst realistischer Aspekt.

Die Zuschauer lernen den Protagonisten des Werks, dem Otto Katzameier souverän die Konturen eines selbstvergessenen und ganz auf seine Arbeit fixierten Tonkünstlers verleiht, als Bewohner eines sterilen weißen Studios kennen, dessen eine Wand viele ausgestopfte Vögel schmücken. Der von Angst vor der Stille gepeinigte Komponist unternimmt nichts dagegen, daß seine Ex-Frau hereinschneit und zwei Möbelpacker das mitnehmen läßt, was sie haben möchte. Freund Xavi (und Nikolai Schukoff macht dies sehr überzeugend!) tröstet ihn über sie und mysteriöse e-Mails hinweg, in denen jeweils das enthalten ist, was Riccardo gerade gearbeitet hat – und dazu eine weiße Seite. Ricardo lernt durch den von Hernán Iturralde als souveräner Machtmensch charakterisierten Herrn Musy die Sängerin Aisha kennen, die alsbald seine Muse wird. Womit sie sich in Gewissensbisse stürzt. Sie fürchtet, ihn zu betrügen.

Pilar Jurado hat sich eine große Partie „auf den Leib“ geschrieben (und bei der Uraufführung auch selbst gesungen): Aisha führt genau das vor, was Pilar liegt – vor allem emotionsgestützte Cantilenen. Im übrigen sorgte Jurado für gut zwei Stunden Theatermusik, die jeweils situationsbezogen auf verschiedene Schichten der Musikgeschichte rekurriert. Neben einem erweiterten Spektrum tonaler Harmoniefolgen für die „Sprachmelodien“ finden sich in der „Página“-Partitur komplexere Akkordkonstruktionen, die auf serieller Grundlage konstruiert wurden. So ergeben sich Anklänge an traditionell Spanisches, Anspielungen auf Musik des 17. Jahrhunderts oder an den farbenfrohen und mit Vogelstimmen geschmückten Orchestersatz Olivier Messiaens. Der Sound scheut musikantisches Geklöppel so wenig wie die neoreligiöse motivierte Tonalität, die seit Jahren ganz Europa heimsucht. Das von Titus Engel geleitete Orchester nutzt die bunte Bandbreite der Komposition nach besten Kräften, der von Andrés Máspero einstudierte Chor die Imposanz der ihm zugeschriebenen Partie.

Zum Prolog war der von Alexander Polzin konzipierte Raum noch von zwei großen Flügeltüren verschlossen, auf denen sich alte Schrift zeigte. Dazu stellten die fulminant aus dem Hintergrund tönenden ChoristInnen grundsätzliche Fragen zum Blick in die Zukunft. Später deklamierten sie – als wären es Fragmente der im Entstehen begriffenen Oper Ricardos – Worte aus der Vulgata, dem 13. Kapitel der Offenbarung Johannis. Claudia Rohrmosers Video-Animationen lassen auf den dann geöffneten Türflügeln eine von Hieronymus Bosch inspirierte Fabeltierwelt kriechen, flattern und picken. Jeweils zum Ende der beiden Akte hin öffnet sich ein tiefer gelegener Raum, in dem sich das „soziale Umfeld“ Ricardos vorm Café-Automaten austauscht.

Dort in der Tiefe wird auch das Ende von Tonsetzers Erdenwallen gezeigt: Ricardo muß ein schwerer Unfall zugestoßen sein. Der Zeitpunkt und das Ausmaß seines Gehirntraumas bleiben unklar. Aber die Bedeutung der wiederkehrenden weißen Seite erschließt sich. Freund Xavi, Computer-Experte und offensichtlich auch Neurochirurg, zapft dem im Koma liegenden Tonsetzer das Gehirn an und verdichtet das, was dort womöglich als Phantasie präformiert war, zur musikalischen Materie. Dieser „Zauber“ erinnert an die alten Alchemisten, die aus Stroh oder Urin Gold machen wollten. Das, was das Elektroenzephalogramm ausspuckt, läßt sich als Partitur drucken und rückt Ricardo als ersten Komponisten in die Musikgeschichte ein, der offensichtlich im Zustand der Bewußtlosigkeit ein großes Werk „ersonnen“ hat. Aisha koppelt den zu Kunstzwecken ausgelaugten Körper Riccardos von den lebenserhaltenden Leitungen ab und der Chor verweist noch einmal auf die Offenbarung.

David Hermanns gediegene Inszenierung folgte Jurados Plot ohne Brechungen und opponierte auch nicht gegen das Finale, das dem heiter surreal beginnenden Werk dann noch tieferen religiösen Sinn und medizinethische Moral aufpfropfte. Die Apotheose ist dieser neuen Opéra comique nicht gut bekommen. Aber mit ihr ist ein spanisches Stück auf den Spielplan getreten, das in Konkurrenz zu den neueren Literatur-Opern in Mitteleuropa tritt, wie sie derzeit von Detlev Glanert oder Kaja Saariaho erfolgreich in den Musiktheaterbetrieb eingespeist werden. Intendant Gérard Mortier machte es möglich.

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