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Orfeo ed Euridice bei den Wiener Festwochen. Foto: Luca Del Pia
Orfeo ed Euridice bei den Wiener Festwochen. Foto: Luca Del Pia
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Karin im Schattenreich – „Orfeo ed Euridice“ von Gluck in einer therapeutischen Video-Installation von Romeo Castellucci

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Dass die langanhaltende Ruhe im „Gluck-Land“ ein wenig wachgerüttelt werde, ist wohl der wichtigste Wunsch für das Jubiläumsjahr, das aus Anlass des 300. Geburtstags des Komponisten ausgerufen wurde. Ein erstes Ausrufezeichen setzte vor einigen Wochen Krzysztof Warlikowski in Madrid mit „Alceste“. Nun hat, sekundiert vom Dirigenten Jérémie Rhorer, Romeo Castellucci in einer vom Théâtre de la Monnaie in Brüssel initiierten Gemeinschaftsproduktion zur Eröffnung der Wiener Festwochen nachgezogen: „Orfeo ed Euridice“ in der italienischen Wiener Version von 1762.

Noch bevor die Ouverture einsetzt, nimmt ein Mann Platz auf dem einsamen Stuhl vor der Projektionsfläche, auf der sich bald ein Frauenname zeigt: Karin Anna G. Mehr Bühnenausstattung gibt es zunächst nicht. Nur eben den verlassenen Sänger vor der leeren Wand und hinter Mikrophon und Kamera. Es ist Bejun Mehta, der fulminante Counter, der mit seinem „Kampf der Gefühle“, also mit den genuinen Mitteln des hohen Gesangs, den Abend dominiert. Orfeo klagt sein Leid über die ihm abhanden gekommene geliebte Frau, schöpft Hoffnung, kämpft sich singend in die schlimmsten Tiefen vor und hofft, Euridice dem Totenreich entreißen und wieder für sich gewinnen zu können. Der Sound wird live in ein Krankenhaus an der Peripherie Wiens übertragen und auf die Kopfhörer, die der an einem Long-QT-Syndrom erkrankten und nach einem längeren Herzstillstand schwer behinderten Karin auf die Kopfhörer gelegt wird.

Während die vorzüglich energisch und elegisch agierenden Musiker des Ensembles B’rock aus Gent die klangschönste Traurigkeit entrollen, portionieren Inserts die Krankengeschichte Karins und eine rudimentäre Familienanamnese: Der Vater war Ingenieur, die Mutter Lehrerin in der österreichischen Provinz, als die außerordentliche musikalische und dann auch noch tänzerische Begabung der vierjährigen Karin festgestellt und diese in die Obhut eines intensiven Trainingsprogramms genommen wurde und die schönsten Fortschritte machte. Die Familie zog nach Wien, wo sich die Eltern neue Arbeitsstellen besorgten – alles der Tochter wegen, der die besten Voraussetzungen für eine Spitzentanzkarriere geschaffen wurden und für die Erfüllung des sehnlichsten Wunsches, die Schönheit ihres Körpers und seiner durchtrainierten Bewegungen in der Company von John Neumeier einsetzen zu können. Nach der Ballett-Reifeprüfung schloss sich ein Studium der Slawistik an. Bei einem Aufenthalt im benachbarten Bratislava aber versagte der aussichtsreiche Körper den Dienst. Die junge Frau war so gut wie tot, konnte dann aber durch die hoch entwickelten medizinischen Künste aus dem Koma geholt und dauerhaft in die Obhut der Apparatemedizin überführt werden. Ihre Augen reagieren wieder (oder noch) und an ihnen konnten die Eingeweihten sogar ablesen, dass sie mit der Prozedur, die nun über sie ergeht, einverstanden sei.

Die OperngeherInnen nähern sich Karin vermittels extrem weichgezeichneter Bilder. Die suggestive Kamerafahrt beginnt im Lichtermeer der Wiener Innenstadt und führt durch kleinere Straßen zu der Anstalt, in der Karin derzeit untergebracht ist. Die Filmaufzeichnung nähert sich dem Otto-Wagner-Spital, durchmisst die Grünflächen zwischen den Bungalows und steigt die Treppe hinauf in dem Gebäude, in dem die Patientin liegt. Pavillon XI. Inzwischen ist die Theater-Musik bei der höllischen Begegnung von Orpheus und Euridike angelangt – bei der Rhetorik des Sängers, die sich gegen „das grausame Schicksal“ richtet und den erst hinhaltenden, dann Liebesbeweis einfordernden Interventionen der Partnerin, der Christiane Karg die Stimme und eine lichte Figur in den Dunkelheiten verleiht. In völliger Distanzlosigkeit – man mag dies für „ergreifend“ halten oder für schamlos – fokussiert die Kamera auf das Gesicht und die Augen, auch auf die zur Erinnerung an die Wand gepinnten Ballettschulfotos und die Ballettschuhe. Zum „Reigen seliger Geister“ dann wieder unscharfe Bilder vom Grün im Klinik-Aral. Erst zum dritten Akt – zum Stichwort „dem Tod entronnen und so viel Schmerz“ – öffnet sich die Bühne und gibt den Blick frei auf eine Theaterlandschaft des Zeitalters der Empfindsamkeit: Tempelruine und Lichtung im Hain vor charakteristischen Bergeshöhn in mildem Mondlicht.

Auch optisch gerät das lieto fine der Azione teatrale per musica zu einer entschiedenen Tröstung – vornan für Karins Eltern, deren so weitgehende in die Tochter gesetzte Hoffnungen von einem „grausamen Schicksal“ brutal zunichte gemacht wurden. Wohl auch stellvertretend für viele andere, die so herb in ihren menschlichen Erwartungen enttäuscht wurden. Der Regisseur Romeo Castelucci hat das Rührungs-Modell von Ranieri de’ Calzabigi und Gluck in grenzwertiger Weise aktualisiert und damit die künstlerische Ausbeutung des Leids auf eine neue Stufe gehoben (aber dieses Ausbeutungsschema ist dem Orpheus-Stoff von Anfang an inhärent und reizte daher gelegentlich zur Parodie).

Die Hospitalisierung des „Orfeo“ passt zum nächsten Wiener Musiktheaterprojekt: Kommende Woche wird im Rahmen der Festwochen eine Neufassung der Oper „Bluthaus“ von Georg Friedrich Haas präsentiert, mit der es um eine Aufarbeitung eines oberösterreichischen Falles geht – dem des Ingenieurs Fritzl und dessen Kellerhaltung der fortgesetzt vergewaltigten Tochter. Guten Appetit auch weiterhin!

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