Hauptbild
Contes d’Hoffmann in Stuttgart. Foto: A. T. Schaefer
Contes d’Hoffmann in Stuttgart. Foto: A. T. Schaefer
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Oper Stuttgart: Marthalers Erzählungen

Publikationsdatum
Body

Jacques Offenbachs „Contes d‘Hoffmann“ kommen mit der surrealistisch geprägten Ausstattung Anna Viebrocks von Madrid an die Oper Stuttgart. Ein Premierenbericht von Frieder Reininghaus.

Die Momente des Phantastischen bilden einen wesentlichen Reiz der Texte E. Th. A. Hoffmanns. Immer wieder geistert durch sie das Unwirkliche, Surreale, Dämonische – sei es in „Die Automate“, im „Sandmann“ oder „Rat Krespel“ aus den „Serapionsbrüdern“. Der vielseitige Berliner Regierungs- und Kammergerichtsrat Hoffmann zeichnete sich auch als Zeichner, Komponist und zeitweise als Allround-Theatermann aus. Als Schriftsteller war er insbesondere am Blick in die für gewöhnlich nicht offen zu Tage liegenden Seelenschächte interessiert und praktizierte Grenzüberschreitungen. Auf ihn gehen wesentlich die Theorie und Praxis der psychiatrischen Gutachten in Strafprozessen zurück. Das Teuflische von Rat Lindorf tritt freilich ebenso in bürgerlicher Kleidung und Umgangsform herein wie das des holländischen Instrumenten- und Körperersatzteilhändlers Coppelius, des makabren Arztes Dr. Mirakel oder des im Glücksspiel- und Prostitutionsgewerbe erfolgreichen venezianischen Kapitäns Dapertutto. Die „bürgerschreckliche“ Existenz des Literaten Hofmann definiert sich im Kontext der Bürgerlichkeit – nicht anders als die Handwerksmeisterlichkeit von Krespel, der nicht nur durch den Geigenbau mit der Sphäre der Tonkunst verbunden ist, sondern weit mehr noch durch die aus den bürgerlichen Bahnen hinausstrebenden virtuos singenden Frauen seiner Familie.

Durch das Libretto von Jules Barbier zu Jacques Offenbachs Oper scheint die Verbürgerlichung fortgeschritten, wiewohl es im hohen 19. Jahrhundert einiges von den altdeutschen Kulissen und altväterlichen Lebensumständen als Fermente des „Romantischen“ beibehielt. Die aus einer früheren Schicht des gesellschaftlichen und individuellen Bewusstseins herrührenden „Erzählungen“ sind in einer späteren gelandet – in der des bürgerlichen Realismus (der bekanntlich so realistisch gar nicht war): Angekommen als „Fremdkörper“, Spolien und in Summe als Faszinosum.

Der Regisseur Christoph Marthaler und die Ausstatterin Anna Viebrock transportierten die „Contes“ in der Gemeinschaftsproduktion der Staatsopern von Madrid und Stuttgart nochmals um dieselbe Wegstrecke in Richtung Gegenwart. Die Gestaltung des sich mehrfach modifizierenden Bühnenraums geht auf eine Anregung des zuletzt am Teatro Real tätigen, 2014 verstorbenen Operndirektors Gérard Mortier zurück, der Anna Viebrock auf ein Gebäude im Zentrum Madrids aufmerksam machte: Den Círculo de Bellas Artes. Die private Kunst- und Kulturinstitution verfügt über einen Theaterraum, Zeichensäle, Bibliothek, Café, Billardsalon und Dachterrasse. Viebrock verwandelte sich das Ensemble mit ihrem fotographischen Blick an und entwickelte daraus eine Installation für die wechselnden Schauplätze.

Die Köpfe der Protagonisten und deren Kleidung gestaltete sie mit ausgeprägtem Sinn für den Zusammenhang von Kunst und Moden – minutiös und streng nach Fotos aus dem Kontext der Exposition internationale du Surréalisme von 1938. Bei dieser Pariser Kunst-Präsentation triumphierte die von André Breton, dem Verfasser des ersten surrealistischen Manifests (1924), von Paul Éluard, Salvador Dalí, Max Ernst, Man Ray u.a. ausgeprägte Richtung der grenzüberschreitenden Kreativität auf ganzer Bandbreite als Wille zu einer absichtsvoll verqueren Welt- und Wirklichkeitsanschauung, als Taumel der Sinne und Tochter des „Wahnsinns“. Diese Tendenz zur „Entzauberung“ des Mirakulösen bei gleichzeitiger Suche nach neuen Formen des Wundersamen setzt sich nun mit Marthalers und Viebrocks Produktion fort – sie reflektiert auf die Kunstbewegungsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Fast möchte man glauben, Antonin Artaud sei von den Toten auferstanden, um der Hofmann seiner Erzählungen zu werden. Yves Tanguy fand in Eric Anders Schlemihl seinen Wi(e)dergänger. Alex Esposito, der Darsteller sämtlicher „Bösewichter“, sieht aus, als wäre er André Breton aus dem Gesicht geschnitten – auch stimmlich präsentiert er die hervorstechende Leistung des Premierenabends. Viebrock hat neuerlich ein Kabinettstück ihrer Bühnenmusealisierungskunst gezeigt, die das Staatsorchester und der nicht minder hochkarätige Staatsopernchor Stuttgart mit musikalischer Verve ausleuchten und befeuern. Nicht immer mit allerletzter Präzision beim Zusammenwirken der verschiedenen Teilkörperschaften, aber durchgängig auf solide hohem Niveau (die Einspielung, die Sylvain Cambreling vor Jahrzehnten mit dem Team des Théâtre de la Monnaie vorgelegt hat, erscheint in mancher Hinsicht überlegen).

Der erste Akt, der die Rahmenhandlung des „Contes“ exponiert, entrückte von Lutters Berliner Theaterweinkeller in den Aktmalsaal des zentralspanischen Círculo – das sorgt für erotische Animation (Touristengruppen werden durchgeführt). Die gastronomischen Dienste versieht Torsten Hofmann von der seitlichen Cafeteria-Theke aus – auch im Übrigen bleibt er ein schauspielerisch differenziert agierender treuer dienstbarer Geist der jeweiligen Herren in den Haushaltungen Spalanzanis, Krespels und Dapertuttos. Marc Laho steht als eher selbstbezogener Tenor drei starken Frauenfiguren gegenüber: Ana Durlovski als traumwandlerisch höhensicherer Olympia, Mandy Friedrich als zwischen Münchener Bürgerinnenglück und Karriereträumen schwankender Antonia und der vom Leben schon leicht gezeichneten Simone Schneider als venezianische Kurtisane. Für den dramaturgisch-musikalischen Widerpart sorgt Sophie Marilley mit ihrem flexiblen Mezzo als Muse und Reisebegleiter Niklas aufs Beste. Natürlich liebt die Theaterschnapsdrossel Hoffmann auch – und als einzige wirklich, d.h. selbstlos.

Erkennbar wird, wie nobel sich Marthaler im zentralen Antonia-Akt um die Evokation der Verstorbene-Geliebten-Muse bemühte. Überhaupt zeichnet sich seine Regieführung durch viele anspielungsreiche und hintersinnige Details aus – angefangen von der plötzlich aus der Wand kommenden Bestrahlung und damit Erleuchtung von Alex Esposito auf Finsteres sinnenden Kopf und endend mit der Ausgestaltung des kurzen Auftritts der Primadonna Stella im (kompositorisch Torso gebliebenen und daher allemal bearbeitungsbedürftigen) Final-Akt. Altea Garrido, die die turbulenten und aufs Phantastische abhebenden Balletteinlagen choreographierte, rezitiert ausführlich aus demŒuvre des portugiesischen Lyrikers Fernando Pessoa aus dem frühen 20. Jahrhundert – wütet gegen einen „allgemeinen Bankrott von allem wegen allen“, gegen das deutsche Wesen als „durch das Öl des Christentums und den Essig der Nietzscheisierung verkommenes Sparta“ oder gegen das „Riesen-Liliput-Europa“. Da läuft das Marthaler-Theater am Ende von vier wunderbar zu goutierenden nostalgischen Stunden nochmals zu großer Form auf.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!