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Bruno Mantovanis „Akhmatova” an der Opéra Bastille Paris, Bühnenbildmodell. Foto: Opéra national de Paris
Bruno Mantovanis „Akhmatova” an der Opéra Bastille Paris, Bühnenbildmodell. Foto: Opéra national de Paris
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Mutter-Sohn-Konflikt in Künstlerinnen- und Historienoper: Bruno Mantovanis „Akhmatova” an der Opéra Bastille Paris

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Intensiver als in Deutschland oder Österreich, wo es seitens des Musiktheaters bislang wenig Interesse gab und gibt, Fragen des real existierenden und realistisch zugrunde gegangenen Sozialismus sowie dessen Folgen zu thematisieren, findet die Auseinandersetzung mit dem Massenmord und der großen Menschenrechtsverletzung in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den westlichen Nachbarländern statt.

Die Niederländer setzten in Amsterdam 1992 mit Alfred Schnittkes „Life with an Idiot“ einen Auftakt, die Franzosen legten in Lyon mit Opern von Gilbert Amy, Marcel Landowski u.a. nach. Nun präsentiert die Nationaloper in Paris neuerlich ein Werk dieser Couleur:

Als Stipendiat von Elisabeth Leonskaja befasste sich der Librettist Christophe Ghristi mit Leben, Schaffen und Leidensgeschichte von Anna Andrejewna Achmatowa. Die Dichterin, die 1889 bei Odessa geboren wurde und 1966 in einer Datscha bei Moskau starb, gilt als bedeutendste russische Vertreterin ihrer Berufsgruppe im 20. Jahrhundert. Seit den 1930er-Jahren wurde ihr Schaffen vor allem von den Schrecken der stalinistischen Herrschaft geprägt.

Der 37-jährige Pariser Konservatoriumsdirektor Bruno Mantovani , der an der Opéra du Rhin in Strasbourg 2006 mit „L'Autre Côté“ eine erste Oper präsentierte (der Text beruhte auf einem Roman des Malers und Grafikers Alfred Kubin von 1908 und präsentierte mit der fernen fiktiven Stadt Perle eine Vorläuferin Mahagonnys) hat sich nun mit „Akhmatova“ wiederum einer „anderen Küste“ zugewandt und dabei viel zugemutet. Er hat ein Werk vorgelegt, das Historien- und Künstleroper zugleich sein sollte.

Im Zentrum der Handlung steht der Konflikt der egozentrischen, sensiblen, von Schaffenskrisen heimgesuchte Poetin Anna Achmatowa mit ihrem nur bedingt lebenstüchtigen Sohn. Um den kümmert sich die früh beliebt gewordene Autorin wenig. Die Operngänger lernen sie nun in den Jahren der beengten Verhältnisse kennen, in denen sie bereits Publikationsverbot erhalten hat und die Leningrader Wohnung mit dem früheren Ehemann und dessen neuen Lebensabschnittspartnerin teilt. Schwer problematisch – so das Libretto – wird das Verhältnis zum junge Lev, als dieser im Zuge des eskalierenden Terrors zum wiederholten Male ohne Rechtsgrundlage inhaftiert und jahrelang weggesperrt wird. Gegenüber drei britischen Literaturexperten erklärt Achmatova zu deren größten Verwunderung ihre Übereinstimmung mit den politischen Zielen der Partei- und Staatsführung. Sogar die Behandlung ihres Sprößlings hält sie für angemessen.

Solche offensichtlich aus Angst und Opportunismus resultierenden Bekundungen zu durchleuchten, dürfte kaum Sache einer Oper sein. Daher stellt sich die Frage, ob Ghristi eine glückliche Wahl traf, als er für sein politisch-literarisches Anliegen die Form des Librettos wählte. Zumal eines, das einfach den biographischen Stationen des Dichterinnenlebens von 1937 bis 1966 folgt wie ein wenig inspirierter Volkshochschulvortrag (modernere Textsorten arbeiten im Musiktheater mit Rückblenden und verlassen ggf. die strenge Chronologie). Die Gestaltung des Konflikts zwischen der alternden Anna und ihrem Sohn funktionierte im Sinne einer ‚klassischen’ Operndramaturgie ungleich plausibler als die Einbindung der individuellen Biographie in die Topographie des Terrors, zumal der Tonsatz aus nahe liegenden Gründen die Partie der Achmatowa privilegiert, die des Tenors Lev als Kontrapunkt einsetzt.

Die in Wien im letzten Jahrzehnt gefeierte Mezzosopranistin Janina Baechle, vom Typ her eine Mutter Courage und nicht gerade wie eine fragile Dichterin wirkend, bringt die geballte Kraft ihrer Stimme in der großen Pariser Halle an der Place de la Bastille effektiv zum Einsatz. Attila Kiss soll es neben dieser ‚Mutter’ nicht leicht haben, behauptet sich aber doch energisch und mit elegantem Wohlklang. Mantovanis Ton, nicht frei vom Überreizen der wiederkehrenden Kraftgesten, besitzt Drive und drastische Züge. Er beweist sich als energischer und hartnäckiger Impulsgeber und variantenreicher Hintergrund für die in der Inszenierung von Nicolas Joel in deutlicher Einfachheit gezeigten Lebens- und Leidensgeschichte.

Die Ausstattung von Wolfgang Gussmann ist in geometrischer Säuberlichkeit und zunächst ganz in Weiß angelegt: Zum einleitenden Bratschensolo sitzt die Titelfigur in einem Designersessel auf der weitgehend leeren Bühne vor der berühmten Strichzeichnung, die Amedeo Modigliani einst von ihr anfertigte. Es werden, warum auch immer, noch sechs Riesen-Kopien dieser weißen Grafik herein- und wieder hinausgetragen. Auch im weiteren dient – welch verquere Chiffren für jene elenden, chaotischen, blutigen und teilweise ziemlich schmutzigen Jahre – lichte lineare Klarheit als Grundlinie der Ausstattung, unterbrochen nur durch etwas kollektives Grau für die Fahrt ins Evakuierungsgebiet nach Ausbruch des großen Vaterländischen Kriegs (zusammen mit anderen Künstlern wurde die Achmatowa nach Taschkent verschickt).

Noch weniger als der Text des nicht unkritisch angelegten Dichterinnen-Portraits schickt sich die Bebilderung an, den fatalen Zusammenhang zwischen individueller Biographie und verheerender Zeitgeschichte ins Visier zu nehmen. Der Mechanismus: Hie Künstler und im Grunde gut, dort der abgrundböse Stalin – das ist als Nachdenklichkeitspotential für ein Theater der in sicherer Distanz Nachgeborenen zu schlicht und einfach – und daher auch falsch. Aber den Opernerfolg schmälert es wenig.

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