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Rotkäppchen und ihr Wolf. Foto: © Petra Basche
Rotkäppchen und ihr Wolf. Foto: © Petra Basche
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Spaßig und hintergründig – aber wirklich für Kinder? – Georges Aperghis’ „Rotkäppchen“ an der Staatsoper Berlin

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Die jüngste Produktion in der Reihe vorweihnachtlicher Märchenopern-Inszenierungen der Jungen Staatsoper in der Werkstatt des Schiller Theaters, ist die bislang kühnste: Georges Aperghis’ sehr frei adaptierte Märchenhandlung des „Rotkäppchen“ erweist sich als eine rundum gelungene Produktion. Ob sie allerdings wirklich „für Menschen ab sechs Jahren“ geeignet ist, sei erst einmal in Frage gestellt.

Die szenischen Miniaturen des 1945 geborenen Autodidakten Georges Aperghis verraten die geistige Schule von John Cage und Mauricio Kagel. Seine 2001 uraufgeführte Transformierung des berühmten Märchens, frei nach Charles Perrault, ist originell, witzig und tiefgründig. Sie erzählt das auf besondere, musikalische Weise. Die Instrumentalisten an zwei Klarinetten, Saxophon, Violine und zwei Klavieren, sind zugleich auch Darsteller und Sänger, die wechselweise in verschiedene Rollen schlüpfen.

Annika Haller, die im Juni dieses Jahres bereits im Festival „INFEKTON!“ Aperghis’ Vokalkomposition „Récitations“ ausgestattet hat, ist hier zugleich die Regisseurin.

Wenn dem Zuschauer der Eintritt in die zuvor als Baustelle verbarrikadierte Werkstatt gestattet wird, umfängt ihn der Lärm von Baugeräuschen, Baugruben, Absperrungen und Plastikverhängungen neben den Tribünen auf den vier Seiten des Raumes und in deren Mitte. Und bald wird dem Besucher klar, dass er mitten im Dschungel der Großstadt platziert ist, denn was im Original die Holzfäller im Wald sind, das sind hier die Bauarbeiter der Metropole, in der sich inzwischen bekanntlich auch Raubvögel und andere „wilde“ Tiere als einem für sie sicheren und nahrungsträchtig ergiebigeren Ort aufhalten.

Das Signal des Vorarbeiters beendet den Baulärm. Unter einer schwarzen Abdeckplane kriechen zwei weiß gewandete Musikdarsteller hervor und legen dann zwei Klaviere frei. Der Kuckuckruf einer Klarinette, frei im Raum, und wie alle Kollegen auswendig spielend, versammelt die sechs allesamt weiß gewandeten Musiker am Tasteninstrument – sie sind die Tiere der Großstadt, die im hellen Licht mit einem roten Ball spielen; daraus wird die rote Strickmütze des Rotkäppchens, die im Spiel stetig vom Einen zur Anderen wandert, im ständigen Wechsel von Rollen und Positionen. Zwei Instrumentalistinnen singen auf Deutsch, in der Wiederholung auf Englisch, jene Geschichte, die betont, dass die Mutter des Mädchens mit der roten Kopfbedeckung „verrückt und die Großmutter noch verrückter“ sei. Zunächst trägt die Saxophonistin einen realistischen Wolfskopf, aber immer und immer wieder erfolgt der Wechsel von Rollen und Positionen, wird die Geschichte erneut erzählt und optisch neu bebildert. Einmal stößt der Klarinettist dem Rotkäppchen seinen Kopf und später auch sein Instrument in den Hintern, ein andermal spielt ein Wolf mit Rotkäppchen zweihändig Klavier. Dann werden weiße Papierbahnen abgerollt, die zunächst als illusionistische Projektionsflächen dienen, später werden diese heruntergerissen und zerfetzt. Das ist Bestandteil der Geräuschebene, die auch kollektives Schnarchen und Wolfsgeheul umfasst. Eine eingespielte Western-Melodie löst befreiendes Lachen aus.

Die Texte werden durchaus witzig und gekonnt, wie in der Praxis des heutigen Schauspiels, in wechselndem Tempo und variierender Tonhöhe rezitiert. Vor einer „Mutprobe“ erfolgt ein Countdown auf Griechisch. Klarinette und Violine dialogisieren. Wenn Rotkäppchen zur Großmutter ins Bett steigt, ist es „erstaunt über ihren Anblick im Nachthemd“. Der Wolf in Verkleidung als Großmutter agiert als Schattenriss hinter einer weißen Abdeckplane, diese öffnet sich und „verschlingt“ das Mädchen, während die Wolfsaugen sich verselbständigen und im Raum nach neuen Opfern suchen. Im Gegensatz zum Kinder- und Volksmärchen gibt es kein Happyend, aber ein Fazit: es gäbe auch durchaus freundliche und angenehme Wölfe, aber die seien die gefährlichsten…

Wie kompliziert es wäre und wie der Wolf beschaffen sein müsste, damit man aus dessen Bauch Großmutter und Rotkäppchen schneiden könne, ohne jedes Mal das Kostüm zu zerstören, darüber geben witzig zu lesende Gedanken einer 12-jährigen Rezipientin im Programmheft Aufschluss. Die gedruckten Infos zur Märchenproduktion (Dramaturgie Rainer O. Brinkmann) haben sich gegenüber den Vorjahren deutlich verbessert, sie erklären nun auch anschaulich, anhand musikalischer Begriffe, die Besonderheit dieser Partitur.

Es war sicher nicht einfach, ein derartiges Ensemble zusammenzustellen, virtuos in der Beherrschung der Instrumente, perfekt im Gesang und überzeugend in der Darstellung. Unter der unsichtbaren musikalischen Leitung (wohl treffender: Einstudierung) von Harry Lyth erweisen sich die sechs Aperghis-Performer durch die Bank als großartig in der Umsetzung der Partitur des Komponisten. Daher sollen sie hier namentlich genannt sein: Blaž Šparovec und Laia Santamaria Piñol (Klarinette), Lea Aimée Sophie Tullenaar (Saxophon), Olga Holdorff (Violine) Alevtina Sagitullina und Frederik Graversen (Klavier).

Georges Aperghis hat die Viertelton-Technik im Sinne der Dramaturgie seiner tierisch menschlichen Geschichte dramaturgisch zwingend eingesetzt – und überzeugt damit stärker als Alois Haba in „Die Mutter“, der ersten Vierteltonpartitur der Musiktheatergeschichte.

Die Wölfe im Märchen, das wissen die erwachsenen Leser spätestens seit Bruno Bettelheim, sind niemand anderes als die Männer.

Bewusst in die Irre also führt eine Ausstellung im Foyer der Oper: dort wirbt eine Initiative von NABU, „Willkommen Wolf!“ dafür, dass frei lebende Wölfe in Deutschland „eine Sensation und aus Naturschutzsicht einer der größten Erfolge“ seien und keine Gefährdung für Mensch und Tier bedeuten würden.

Große Begeisterung des Publikums; und auch der Kinder? Die sind als TV-User in Vorabendserien wohl bereits an Grausamkeiten und knallharten Sex gewohnt, wie er hier in roter Unterkleidung, spaßig und hintergründig, virtuos und auf höchstem Niveau geboten wird.

Weitere Aufführungen: 1., 3., 4., 6. 7., 8., 10., 11. 13., 14., 15., 17., 18., 20. 21., 22., Dezember 2013.

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