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Anatol Ugorski – Unterrichtsszene. Foto: Martin Brockhoff.
Anatol Ugorski – Unterrichtsszene. Foto: Martin Brockhoff.
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Spielintelligenz und Leidenschaft: zum 70. Geburtstag des Pianisten Anatol Ugorski

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„Kann es wirklich sein, dass ein 49-jähriger Pianist unter uns lebt, der fast die Glut des jungen Serkin besitzt, fast die Technik von Pogorelich, beinahe die Phrasier-Intelligenz von Afanassiev – und den gleichwohl, abgesehen von ein paar Insidern, Eingeweihten, kaum ein Beobachter der Klavierszene kennt?“, fragte 1992 Joachim Kaiser im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung mit ungläubiger Relativierung, als traute er seinen Ohren nicht. Der Eiserne Vorhang war für Ugorski lange Zeit unüberwindbar gewesen. Erst nach Emigration nach Deutschland 1990 lernte der Westen den reifen Pianisten kennen. Am 28. September feiert er in seiner Wahlheimat Detmold den 70. Geburtstag.

„Er hat nie in ein Raster gepasst“, sagt Dina Ugorskaja im Gespräch über ihren Vater, Anatol Ugorski, der ihr erster Klavierlehrer war und jetzt auch Duopartner ist. Gerade seine eigenwillige, hingebungsvolle Herangehensweise an die Musik bewundert sie so besonders an ihm. Mit Motetten von Schütz bis hin zu Schumanns Liedern stieß er für sie das Tor zur Welt der Musik nach seinem Verständnis auf. Den Einstieg am Klavier unternahm Anatol Ugorski mit seiner Tochter erst später über Bartóks Mikrokosmos. Musik ist für ihn eben ein schier grenzenloser Raum, in dem es großartige Dinge zu erleben und zu entdecken gibt. Und „wenn er für etwas brennt, macht er alles dafür“, betont Dina Ugorskaja. Als er die damals in der Sowjetunion noch unbekannte Musik von Heinrich Schütz für sich entdeckt hatte, gründete er kurzerhand in den 1970er Jahren ein Ensemble, mit dem er seine Werke aufführen konnte. Historische Aufführungspraxis habe er zwar nicht im Sinn gehabt, doch wurde er dennoch zum Vorreiter dieser Disziplin in der Sowjetunion. Da es das Notenmaterial nicht zu kaufen gab, schrieb er die Partituren mühsam in der Bibliothek eigenhändig ab. Note für Note.

Während des 2. Weltkrieges in Evakuierung in Sibirien geboren, offenbarte er schon früh einen besonderen Charakter. „Die Eigenwilligkeit und Überzeugungskraft sind ihm wohl angeboren“, sagt Dina Ugorskaja – zwang er doch schon als sechsjähriges Kind die Aufnahmekommission der Spezialmusikschule für Hochbegabte dazu, zu marschieren, um dem geforderten Marsch einen Sinn zu geben. Er konnte damals weder Noten lesen, noch Klavier spielen. Trotzdem: „Er hat die Kommission überzeugt“. Den Humor hat er nie eingebüßt, erlaubte sich schon mal den Spaß, zum Internationalen Frauentag Mussorgskis „Baba Jaga“ vorzutragen.

Wie schon als Pädagoge von Berufung, ist er als Interpret an der gesamten Bandbreite der Musikliteratur interessiert. Zeitgenössische Kompositionen gehörten daher schon damals unbedingt zu seinem Repertoire. Er spielte Uraufführungen und Werke von Komponisten wie Sergej Slominski, Galina Ustwolskaja, Edisson Denissow, Sofia Gubaidulina oder Witold Lutosławski. Westliche Komponisten waren in der Sowjetunion nicht erwünscht und deren Notenmaterial schwer zugänglich. Dennoch setzte sich der damals 25-jährige Pianist für die Öffnung ein, auch wenn er dadurch zum Störfaktor der sowjetischen Kulturpolitik wurde.

Ugorskis Begeisterung für Pierre Boulez (beide Musiker sollten erst gut 30 Jahre später zusammen arbeiten), die der Pianist nach dessen Leningrader Konzert ungeniert frenetisch kundtat, blieb nicht unbemerkt. Die Folgen für diese sowjetisch-ideologische Linienuntreue des damaligen Studenten des Leningrader Konservatoriums bringt Dina Ugorskaja mit einem Satz auf den Punkt: „Er wurde auf den Teppich bestellt“. Und das hieß bekanntlich: Rüge und Ausreiseverbot. Als Duopartner des Cellisten Boris Pergamenschtschikow durfte er lediglich sozialistische Länder bereisen. Bei seiner einzigen genehmigten Solo-Tour gewann er 1968 prompt den 3. Preis beim internationalen George Enescu Wettbewerb in Bukarest. Dem Westen blieb er indes unbekannt.

Auch seine Frau, die Musikwissenschaftlerin Maja Elik, die vor wenigen Monaten gestorben ist, setzte sich aktiv für die Öffnung des Landes ein. 1967 lernten sich Ugorski und Elik kennen – bei der Arbeit an der sowjetischen Erstaufführung von Schönbergs „Pierrot lunaire“. In einem Musikverlag tätig, übersetzte Maja Elik den Text des Sprechgesangs ins Russisch und brachte die Partitur heraus. Unter Michail Gorbatschow engagierte sie sich später bei der Durchführung der ersten freien Wahlen.

Zu emigrieren, war trotz aller Schwierigkeiten nie das Thema. Doch als antisemitische Tendenzen schließlich zu einer konkreten Bedrohung seiner Tochter geführt hatten, entschied sich die jüdische Familie, Russland eiligst zu verlassen. In Berlin angekommen, breitete sich die Entdeckung seiner besonderen musikalischen Qualität blitzartig aus, sobald dank der Hilfe der Schriftstellerin Irene Dische eine Übungsmöglichkeit gefunden und erste Auftritte vermittelt werden konnten. „Er hat eine immense Kreativität und eine Art, einmalig intensiv zu spielen und tief in die Materie einzudringen“, begründet Dina Ugorskaja den Erfolg ihres Vaters. Seine Spielintelligenz, Leidenschaft und sein Geist machen selbst jedes noch so unscheinbare Klavierstück zu einem einmaligen Musikerlebnis, dem sich kein Zuhörer entziehen kann. Routine gibt es für den Pianisten bis heute nicht, jede Interpretation ist eine Neuentdeckung, die von allen Sinnen aufgesogen werden will.

Verträge mit der Deutschen Grammophon und der Künstleragentur Winderstein waren kurz nach den ersten Auftritten im Westen unter Dach und Fach. Pierre Boulez, einst von Ugorski so bewundert, nahm das Skrjabin-Konzert mit ihm auf. Diese Einspielung wurde für den Grammy nominiert. CDs mit Werken von Beethoven, Schumann, Schubert, Chopin, Brahms, Mussorgski etc. kamen in kurzen Abständen heraus. Für die komplette Aufnahme des „Catalogue d’oiseaux“ von Olivier Messiaen erhielt Anatol Ugorski den Echo Klassik 1995.
„Er hat sich nicht geschont“, erinnert sich Dina Ugorskaja an die Zeit, als ihr Vater bis zu 130 Konzerten weltweit jährlich gab, zudem mit ständig wechselnden Programmen. Und dies neben der Professur an der Musikhochschule Detmold, die er von 1992 bis 2007 bekleidete. Grundsätzlich betont sie: „Alles was er je gemacht hat, tat er aus Begeisterung und innerster Überzeugung. Mein Vater sagt immer, was er denkt. Manchmal kontrovers, aber meistens mit einem gewissen Charme und Humor. Aber wenn er etwas nicht möchte, ist er konsequent – dennoch bereit, kreativ nach Alternativen zu suchen“. Auch schon mal in die eigene Tasche zu greifen, um etwa einen Sonderpreis zu stiften, als eine herausragende Pianistin beim ARD-Wettbewerb 2011 leer auszugehen drohte.

Neben Meisterkursen wie etwa bei der Internationalen Mendelssohn Akademie Leipzig oder am Mozarteum Salzburg, ferner seiner Jury-Tätigkeit beim ARD- oder beim Busoni-Wettbewerb in Bozen lehrt Anatol Ugorski nun im Rahmen der vertretungsweise verlängerten Professur weiterhin mit vollem Deputat bis 2014. Für die Konzertvorbereitung nimmt er sich heute viel mehr Zeit, sodass für sein Publikum jedes Konzert zum langersehnten Ereignis geworden ist.

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