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ENA LINDENBAUR: „Wagnis“, Zeichnung. Ein leichtfertiges Wagnis könnte auch das in NRW aus dem Boden gestampfte „Jeki“-Projekt wegen nicht gesicherter Kräfte und einer ungewissen Zukunft sein.
ENA LINDENBAUR: „Wagnis“, Zeichnung. Ein leichtfertiges Wagnis könnte auch das in NRW aus dem Boden gestampfte „Jeki“-Projekt wegen nicht gesicherter Kräfte und einer ungewissen Zukunft sein.
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Jeki: Die Zweifel sind übermächtig

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Stellungnahme der Musiker in ver.di zum Projekt in NRW – Experiment mit offenem Ausgang
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Das seit dem Schuljahr 2005/2006 in NRW laufende Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ (Jeki) erfreut sich in der bildungspolitischen Landschaft mittlerweile großer Beliebtheit. Diesem Projekt liegt eine außerordentlich begrüßenswerte Idee zugrunde, jedem Kind unabhängig von seiner sozialen Herkunft und seinem ökonomischen Status den Zugang zu musikalischer Betätigung und damit zu kultureller Teilhabe zu ermöglichen.

Wie so oft in der Bildungspolitik in den Jahren nach PISA wird mit „Jeki“ in seiner derzeitigen Erscheinungsform jedoch wieder einmal ein kurzlebiges und nicht zu Ende gedachtes flächendeckendes pädagogisches Experiment veranstaltet. Die derzeit ungelösten Probleme von „Jeki“ betreffen die finanzielle Absicherung, die Nachhaltigkeit, den Status der Lehrkräfte und die musikalische Qualität.

Die bisherigen Erfahrungen aus NRW lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • Es gibt keine ausformulierten musikpädagogischen Ziele und dementsprechend auch kein Unterrichtsmaterial. Dieses soll erst innerhalb der nächsten zwei Jahre erarbeitet werden.
  • „Jeki“ zieht Kinder aus den Musikschulen ab, da viele Eltern ihr Kind bei „Jeki“ anmelden.
  • Die musikalischen Leistungen der Kinder aus „Jeki“ sind bei weitem nicht mit denen von Kindern vergleichbar, die im Unterricht an Musikschulen gefördert werden.
  • Das Projekt ist lediglich bis 2011 vom Land NRW und der Bundeskulturstiftung finanziell gesichert.
  • Ein Viertel der Projektsumme (12,5 Mio. Euro) soll durch Sponsoren finanziert werden. Es gibt jedoch zu wenig Mittel für Instrumente und Sozialstipendien.
  • Der Bedarf an Lehrkräften lässt sich nicht im notwendigen Umfang abdecken.
  • Obwohl die Qualitätsstandards vorsehen, nur in Ausnahmefällen Honorarkräfte einzusetzen, liegt deren  Quote derzeit bei 26 Prozent. Selbst in NRW, wo die Quote fest angestellter Musikschullehrkräfte im Gegensatz zu anderen Bundesländern mit immerhin noch 60 Prozent recht hoch liegt, gibt es offenbar nicht genügend fest angestellte Lehrkräfte.
  • Nicht alle Kinder, die dies wollen, können nach dem Durchlaufen von „Jeki“ an einer Musikschule aufgenommen werden, da deren Kapazitäten nicht ausreichen. Gebührenbefreiungen an den Musikschulen für arme Kinder sind bisher offenbar nicht vorgesehen, so dass ihre Chancengerechtigkeit spätestens an diesem Punkt endet.

Über die Erfahrungen der ersten beiden Projektjahre in NRW liegt mittlerweile auch eine Begleitstudie von Beckers & Schulten (2007) vor. In dieser Studie werden zusammenfassend vor allem drei Problembereiche genannt:

  1. Die Kinder nehmen den Unterricht sehr positiv wahr, sind aber sehr unterschiedlich motiviert zu üben. Dies wirkt sich auf das musikalische Leistungsniveau der Gruppen negativ aus. Hohe Unterrichtsmotivation führt also nicht automatisch zu hoher Übemotivation.
  2. Es gibt teilweise gravierende organisatorische Probleme in der Zusammenarbeit mit den Schulen: Lehrer stehen vor verschlossenen Schultüren, haben keine Räume oder keine Lagerungsmöglichkeiten für Instrumente.
  3. Es werden vor allem die Kinder erreicht, deren Eltern ohnehin Interesse an Kultur haben.

Die Ergebnisse der Studie zeigen zwar auch eine hohe Professionalität der Musikschullehrer, eine positive Bewertung des Unterrichts durch die Eltern und Kinder und eine Bestätigung des didaktisch-methodischen Ansatzes „Lernen durch Anschauung und Erfahrung“. Dies jedoch sind nicht die eigentlichen Ziele von Instrumentalunterricht. Das Ziel von Instrumentalunterricht ist es, musikalische Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln.

„Jeki“ scheint bisher jedoch in erster Linie außermusikalische Transfereffekte zu erzeugen, wie etwa eine Steigerung der Konzentrationsfähigkeit oder ein weniger aggressives Sozialverhalten. Solche Effekte sind auch als einzige Ziele bisher klar ausformuliert. Dennoch warnen die Wissenschaftler selbst davor, die Transfereffekte überzubewerten.

Die Schlussfolgerung von Beckers & Schulten, die Beschäftigung mit Musik werde bereits nach zwei Jahren „Jeki“-Unterricht dazu führen, dass die Kinder sich auch weiterhin in ihrem Leben mit Musik befassen werden, ist nicht haltbar, denn sie ist durch nichts belegt. Diese Vermutung ließe sich nämlich nur durch entsprechende Langzeitstudien belegen. Die Studie wertet „Jeki“ trotz vieler Probleme und Widersprüche dennoch insgesamt als „eine sehr erfolgreiche musikpädagogische Fördermaßnahme“ und „wertvolle Bereicherung des musikalischen Bildungsangebots“. Sollte der Erfolg eines musikalischen Bildungsprojektes aber nicht eigentlich am Erreichen oder Nicht-Erreichen ursprünglich verfolgter musikpädagogischer Ziele gemessen werden?

Großgruppenprojekte wie „Jeki“ werden bildungstheoretisch damit begründet, man erreiche ein größeres Publikum, noch dazu aus bildungsfernen Schichten, und deshalb sei dieser Unterricht sozialer als der herkömmliche Musikschulunterricht. „Jeki“ scheint jedoch in erster Linie ein Projekt für bürgerliche Mittelschichtkinder zu sein, deren Eltern ohnehin ein stärkeres Interesse an kultureller Bildung haben. Damit scheint das Hauptanliegen des Projekts, Chancengerechtigkeit und kulturelle Teilhabe für Kinder aus bildungsfernen Schichten herzustellen, verfehlt. Hinzu kommt, dass überhaupt nur knapp 38 Prozent aller Schüler nach dem Ende der 2. Klasse weiterhin an dem Projekt teilnehmen möchten. Für 62 Prozent hingegen ist das Projekt offenbar nicht weiter von Interesse.

So nützt „Jeki“ zumindest der Musikinstrumentenindustrie und den Privatlehrern, die künftig den Einzelunterricht an Stelle der kommunalen Musikschulen weitgehend übernehmen werden, da immer mehr Musikschullehrkräfte durch Gruppenunterrichtsprojekte gebunden werden. Es nützt den Verlagen, die spezielles Notenmaterial verkaufen können. Es nützt dem Image einiger Politiker, die meinen, damit etwas Wohltätiges zu bewirken, und es nützt dem Staat, der sich zunehmend seiner finanziellen Verpflichtung für eine kulturelle Daseinsvorsorge durch (Teil-)Privatisierung entzieht.

Damit ein Projekt wie „Jeki“ seinen Anspruch, einen wertvollen Beitrag zur musikalischen Bildung und zur Chancengerechtigkeit zu leisten, tatsächlich einlösen kann, sollten nach Auffassung der Fachgruppe Musik in ver.di folgende Bedingungen erfüllt werden:

  • „Jeki“ muss für alle Kinder zumindest über einen Zeitraum von einem bis zwei Jahren verpflichtend und entgeltfrei sein, damit auch Kinder aus bildungsfernen Schichten erreicht werden.
  • Für alle Kinder, die dies wollen, muss im Anschluss an „Jeki“ die Möglichkeit gegeben sein, den Unterricht an einer Musikschule fortzusetzen. Für arme Kinder muss es eine Befreiung von den Unterrichtsgebühren sowie Leihinstrumente geben. Das bedeutet: Ausbau und entsprechende finanzielle Ausstattung der Musikschulen.
  • „Jeki“ muss zusätzlich zum Musikschulunterricht stattfinden, nicht stattdessen, indem immer mehr Lehrer aus den Musikschulen dafür abgezogen werden. Wenn „Jeki“ zusätzlich zu bewährten Angeboten der Musikschulen stattfindet, bietet es eine sinnvolle Möglichkeit der Vernetzung von Musikschule und Schule.
  • Eine Ausbildungsoffensive von Lehrkräften an den Musikhochschulen hat nur Sinn, wenn die Finanzierung des Projektes auch langfristig gesichert ist.
  • „Jeki“ darf nicht von Sponsorengeldern abhängen.
  • Zur Qualitätssicherung müssen überprüfbare musikpädagogische Lernziele formuliert sowie ein Curriculum erarbeitet werden.
  • Die Bedeutung musikpädagogischer Lernziele darf nicht zugunsten fragwürdiger Transfereffekte in den Hintergrund treten.
  • Der Unterricht soll ausschließlich von fest angestellten Musikschullehrkräften erteilt werden, die gleichberechtigt im Team mit den Lehrern der allgemein bildenden Schulen unterrichten.

Was den Status der Lehrkräfte betrifft, ist zu befürchten, dass sich der Anteil von derzeit 26 Prozent sozial absolut unzureichend abgesicherter Honorarkräfte erheblich ausweiten wird, vor allem in Bundesländern, in denen die Quote fest angestellter Musikschullehrkräfte ohnehin erheblich niedriger ist als in NRW. Die Stellen, die derzeit geschaffen werden, werden größtenteils durch die Unterrichtsgebühren, die die Eltern für „Jeki“ bezahlen, finanziert. Daher stellt sich die Frage, wie zusätzliche Stellen vor allem in weitaus ärmeren Bundesländern als NRW finanziert werden sollen, wenn die Forderung nach Entgeltfreiheit eingelöst wird. Sollte diese Forderung überhaupt eingelöst werden, dann vermutlich auf Kosten der sozialen Absicherung der Musikschullehrkräfte, die den hauptsächlichen „Kostenfaktor“ für dieses Projekt darstellen. Damit würde einmal mehr bestätigt, dass die als so wertvoll und wichtig eingeschätzte musikalische Bildung nur dann wertvoll und wichtig ist, wenn sie möglichst preiswert zu haben ist.

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