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Die Neuerfindung der Jam-Session

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Das Musikformat 4fakultät bringt in Hamburg Improvisierende zusammen
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Dass Musik Physik ist und durch Mathematik berechenbar ist, ist bekannt. Das Team vom Künstlerhaus Faktor aus Hamburg bringt seit 2016 Mathematik und Musik in einen anderen Kontext. Und das Ergebnis ist wahrlich unberechenbar.

Konstantin Bessonov, Mark Matthes und Simon Roessler heißen die drei Veranstalter, die auf das Fakultätsprinzip der mathematischen Kombinatorik zurückgriffen, um ein „einzigartiges Spielprinzip“ zu kreieren. Genauer handelt es sich um die vierte Fakultät, auch 4! genannt, die der Reihe auch ihren geheimnisvollen Namen gab.

Das klingt alles sehr kompliziert, ist in der Praxis jedoch einfach zu erklären: Zu jeder Veranstaltung, die viermal im Jahr stattfindet, werden vier unabhängige Künstlerinnen, Künstler oder Ensembles eingeladen. Diese treffen an den Veranstaltungsabenden zum ers­ten Mal aufeinander, was auch zur Folge hat, dass das Publikum diese Kombination an Musikerinnen und Musikern noch nie zuvor gehört hat. Im Laufe der nächsten 150 Minuten spielen die einzelnen Acts mal zu viert, mal zu zweit und mal alleine. Am Ende des Abends sollen möglichst viele Kombinationen entstanden sein. Wer wann spielt, ist vorgeschrieben. Was gespielt wird, ist den Künstlerinnen und Künstlern selbst überlassen. Die Veranstalter nehmen kaum Einfluss auf das Geschehen und lassen sich genauso überraschen, wie das Publikum. Sie nennen diese Situation eine „Trias aus Komposition, Interpretation und Situation“ – die „ultimative Zerreißprobe“ für die Teilnehmenden.

Da sich die Künstlerinnen und Künstler nicht kennen, muss viel improvisiert und neu geschaffen werden. Improvisation kennt man sonst vor allem von Jam-Sessions aus dem Jazz. Was an diesen Abenden entsteht, lässt sich allerdings nur schwer einem Genre zuordnen – irgendetwas zwischen sphärischer elektronischer Musik, Jazz und Neuer Musik? Das Ergebnis ist jedes Mal anders, da hier Musikerinnen und Musiker aus sehr unterschiedlichen Genres eingeladen werden.

Doch bei 4fakultät besticht nicht nur die Musik. Zum Gesamtkonzept gehören „Live Visuals“ – Videoinstallationen, die live zu der Musik ge­spielt werden. Treue Begleiter seit einiger Zeit sind Alexander Trattler und Artur Musalimov von „elektropastete“, die den leuchtend weißen Saal des Künstlerhaus Faktor jedes Mal neu in Szene setzen.

Am 29. November 2019 feierte 4fakultät ihre 14. Veranstaltung unter dem Namen „Gipfeltreffen der Avantgarde“ – ausnahmsweise im Resonanzraum St. Pauli. Eingeladen war wieder eine bunte Mischung an Protagonistinnen und Protagonisten: das Duo Tomat Petrella an Electronics und Posaune, ein Trio rund um den Schlagzeuger Martin Brandlmayr mit der Künstlerin Maja Osojnik und dem Bassisten John Eckhardt, der Flötistin Sylvia Hinz zusammen mit Bratscher Justin Caulley vom ansässigen Ensemble Resonanz und zuletzt dem Künstler Robert Lippok, der mit selbstgebauten Instrumenten elektronische Musik erzeugt.

Ab 20 Uhr ist Einlass und die Veranstalter wissen, wie man Spannung aufbaut: Die sphärischen Klänge des DJ Duos Perila und mxdr umhüllen einen direkt beim Betreten des Saals. Die Installationen auf der Bühne wirken wie Museumsstücke, die von den Gästen schon Mal erforscht werden können. Sie verraten noch nicht, was einen an diesem Abend erwartet.

Es ist viel Bewegung im Saal, die sich zunächst legt, als die Musikerinnen und Musiker gemeinsam zu spielen beginnen. Es entsteht eine Soundkulisse, die im ersten Moment überwältigen – eventuell etwas überfordern kann. Danach ist jede Gruppe einzeln dran, bis die nächste Gruppe vorsichtig einstimmt und nach und nach übernimmt. Es entsteht ein Fluss, der auch von den Visuals beeindruckend unterstützt wird. Osojniks wilde Gesänge werden abgelöst von einem nahezu poppigen Elektro-Set, begleitet durch Petrellas Posaune, das das Publikum fast zum Tanzen bringt, bevor geduldig einer Variation an Flöten, begleitet von schrillen Bratschen-Klängen, gelauscht wird. Lippok hat sich abschließend den Schritt zur Flöte gespart und musiziert mit Ästen.

Die Reihenfolge ändert sich. Es entstehen neue Kombinationen. 150 Minuten freie Improvisation sind fordernd und nicht alles reißt einen mit. Doch das ist auch nicht das Ziel von 4fakultät. Es wird vorgeschlagen, sich im Raum zu bewegen und diesen zeitweise zu verlassen. Der starre Ablauf eines Konzertbesuchs wird aufgebrochen. Man hat Zeit, sich über das Gehörte direkt auszutauschen. Auch nach dem Konzert ist man zum verweilen und diskutieren eingeladen. Die Eindrücke müssen verarbeitet werden.

Man weiß nicht, mit welchem Gefühl man an dem Abend nach Hause gehen wird. Sicher ist, man weiß nie, was einen erwartet und das macht neugierig. Nacherleben kann man die letzten Veranstaltungen online, denn alle Abende werden mitgeschnitten und auf der 4fakultät-Website zur Verfügung gestellt. 

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