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Doppelstern über Bredeney

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Werkverzeichnisse Juan Allende-Blin/Gerd Zacher vorgestellt
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Ansprachen, Komponistengespräch, Konzert. Auf den ersten Blick der normale Ablaufplan. Und doch gingen wir bereichert am Ende dieser Buchpräsentation. Nicht, weil es eine der letzten Musikveranstaltungen geworden ist, die im Ruhrgebiet noch stattgefunden hat. Letzteres war ja nicht zu ahnen. Und schon gar nicht war zu erahnen, in welches Loch wir fallen würden.

Nein, die Veranstaltung in der Stadtbibliothek Essen hatte ihre Qualität aus sich heraus, leuchtete kraft eigener Sinnhaftigkeit. Unter Mitwirken des Komponisten Juan Allende-Blin (gerade 92 Jahre geworden) wurde dessen Werkverzeichnis wie das seines Lebenspartners, des Komponisten und Organisten Gerd Zacher (1929–2014) der Öffentlichkeit vorgestellt. Für die Stadt Essen sprach und gratulierte Kulturdezernent Muchtar Al Ghusain. Für die federführende Stadt- und Musikbibliothek sprachen, gratulierten Klaus-Peter Böttger und Verena Funtenberger, die eigentliche Triebkraft des ganzen Unternehmens. Ohne die langjährige Vizepräsidentin der deutschen Ländergruppe der Internationalen Vereinigung der Musikbibliotheken, ohne das Engagement, ohne die Tatkraft dieser musikliebenden Bibliothekarin lägen die beiden Bände so nicht vor. Jetzt aber liegen sie vor – in frühlingshaft pastellfarbenem Layout. Zwei Werkverzeichnisse, zwei Mal 170 Seiten, liebevoll kommentiert, illustriert, publiziert in der Schriftenreihe der Freunde und Förderer der Stadtbibliothek Essen e.V. – So sieht das aus, so geht das, wenn eine Stadt ihre Komponisten ehrt.

Angefangen hatte diese Geschichte vor einem halben Jahrhundert. Aus Hamburg-Wellingsbüttel kommend, hatte Gerd Zacher, Organist an der dortigen Kirchgemeinde, im Jahr 1970 die Leitung der Abteilung für Evangelische Kirchenmusik an der Essener Folkwang-Hochschule übernommen. Seitdem lebten er und Juan Allende-Blin in einer Zwanziger-Jahre-Altbauwoh­nung im Stadtviertel Bredeney, unweit des ehemaligen Rathauses. Stadtgeologisch gesehen ein herausragender Ort. Wer nach dem Weg fragt, kann gut und gern die Antwort erhalten: „Das muss oben in Bredeney sein!“ Und eben dort, wo man mit 158 Höhenmetern dem Essener Himmel am nächsten ist, haben zwei Musiker vor gut fünfzig Jahren ihr Quartier aufgeschlagen. Für Außenstehende nicht selten ein Trompe-l’œil. Bei denkbar geringem Winkelabstand zueinander, bei hoher gravitativer Bindung aneinander, konnte man, selbst unter Hinzuziehung bester Optiken, den Eindruck haben, einen einzigen Stern anzuschauen. Dabei war doch immer klar und jetzt mit dem Erscheinen der beiden Werkverzeichnisse ist es um so mehr: Es waren, es sind zwei. Wir haben einen Doppelstern.

Im konzertanten Teil verriet Letzterer das eine und andere von seiner Beschaffenheit, seinem Entstehen. In „Versch(ra)enkungen“ für Klavier zu vier Händen rekapitulierte Gerd Zacher, in musikalisierter Kurzform, wie das gelaufen war mit Juan und Gerd. Strenge Parallelität zu Anfang, gehämmerte Akkorde ohne Pedal, dann, allmählich, bei getretenem Pedal erste Mischungen, die in eine Linearität münden bis es tatsächlich zu Verschränkungen, zum Übergreifen der Hände kommt. Alfred Pollmann und Lucius Rühl spielten das Stück zwei Mal und mit großer Klarheit; nicht weniger Martin von der Heydt die seriellen „Transformations pour piano“ von Juan Allende-Blin, eine Arbeit aus dem Jahr 1960. Große Verwunderung verursachte „Glossar“ für Flöte und Klavier, ein op. 2, das Gerd Zacher 1952 in Chile komponiert hatte. Woher diese Sensibilität nach all dem Grauen, das noch in den Knochen steckte, das den jungen Gerd Zacher zum Opfer von Zwangspsychiatrie gemacht hatte? Evelin Degen beließ alles in der Transparenz, der Zerbrechlichkeit, der Feinheit dieser Zeichnung. In der Mitte des Abends eine Botschaft: „Letztes Geleit – zwei Briefe von Hanns Stein“, ein „Hörstück“ von Juan Allende-Blin aus dem Jahr 1995. Der befreundete Sänger hatte darin von der Beerdigung Erich Honeckers berichtet und von seiner, des Sängers unfreiwilligem Hineingezogensein in dieselbe; atmosphärisch ins Hörstück eingewebt die Nachrichtenlage der Nachwendejahre: „Schweinepest“. „Wiking“-Rechtsradikalismus. Was hatte sich eigentlich geändert? fragte man sich als man wieder vom coronaren Ausnahmezustand empfangen wurde. Nur die Namen?

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