Es ist nicht unbedingt der Normalfall, wenn eine Veranstaltung von Chören kurz vor der Notankündigung „Wegen Überfüllung geschlossen!“ steht. Gemeint ist das Deutsche Chorfest in Frankfurt/Main vom 7. bis zum 10. Juni 2012. Der Deutsche Chorverband (DCV) freut sich im 150. Jahr seines Bestehens darüber, dass sich fast 500 Chöre mit rund 20.000 Sängerinnen und Sängern aus der ganzen Welt angemeldet haben, um bis zu dreimal an einem der mehr als 25 Spielorte aufzutreten – das ergibt rund 600 Auftritte in 4 Tagen.
Einen weiteren statistischen Rekord kann man mit dem zweiten Internationalen Chorwettbewerb des DCV vermelden: Mehr als 80 Ensembles entscheiden sich für je eine musikalische Epoche („Alte Musik“, „Romantik“ oder auch „Jazz/Pop/Rock“) und treten in unterschiedlichen Leistungsstufen an. Die Mitarbeiter sehen sich somit angesichts der logistischen Organisation und Durchführung dieses Mammutprojektes vor größte Herausforderungen gestellt, zumal auch Spitzenensembles in diesem Wettbewerb vertreten sind, die anderweitig hochkarätige Erfahrungen gemacht haben.
Stichwort „Mammut“. Man könnte doch meinen, dass in diesem Zusammenhang bei allen großartigen Zahlen einiges auch auf die Aspekte hindeutet, die kritische Betrachter gegenüber der Chorszene immer wieder skeptisch sein lassen. Ein mit 150 Jahren im Wortsinne alter Verband, ein „Koloss“ mit einer runden Million Mitglieder und allein schon der Begriff „Deutsches Chorfest“ riechen doch ein bisschen nach Verbandsmeierei, nach selbstzufriedener Nabelschau, nach antiquierten Ritualen, vor allem nach mehr Masse als Klasse. Was die Konzeption dieses Chorfests aber so sympathisch macht, ist der sichtbare Wille, genau in diesen Punkten gegenteilige Entwicklungen und den Willen zur Veränderung aufzuzeigen.
Der DCV stellt sich zum Jubiläum seiner in manchen Phasen problematischen Geschichte. Sängerfeste im politischen Kontext vor allem der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der aus einer bürgerlichen Tradition geborene Deutsche Sängerbund können und müssen natürlich differenziert gesehen werden. Es ist genau der richtige Weg, dass der heutige DCV die historisch kritische Aufarbeitung dieser Schatten selbst in Auftrag gibt und auch damit gerade jungen Menschen das Signal gibt: Wir wissen um unsere Vergangenheit, werten diese schonungslos aus und brechen mit neuen Vorsätzen in das 151. Jahr unseres Bestehens und in die nächsten Jahrzehnte auf. Die kreativen Köpfe der Chorszene und vor allem die Jugend sind sicher nur so zu gewinnen.
Für die Wandlung des DCV zu einem modernen, traditionsbewussten und gleichzeitig aufbruchsorientierten Verband spricht auch der bewusste Blick über den Tellerrand. Unter den vielen Chören aus aller Welt nimmt der Coro Sinfónico Juvenil Simón Bolívar aus Caracas/Venezuela einen besonderen Platz ein. Bereits am 3. Juni wird dieser Chor in Kelkheim bei einem der Auftaktkonzerte exklusiv zu hören sein. Neben Auftritten mit dem Partnerensemble der Deutschen Chorjugend, dem Deutschen JugendKammerChor, soll aber insbesondere der Workshop mit lateinamerikanischer Chormusik in authentischer Ausführung sowie mit detaillierten Informationen über das berühmte „El Sistema“ aus allererster Hand, nämlich von den jungen Leuten, die in diesem System groß geworden sind, ein Highlight des Festes werden. Sollte es sein Gesundheitszustand zulassen, wird beim Abschluss am Samstag in der Jahrhunderthalle der große Gründer von El Sistema, Maestro José Antonio Abreu, mit DCV-Präsident Scherf, der selbst eine Stiftung für Musikschulen in Nicaragua errichtet hat, und mit Bundespräsident Gauck zusammentreffen.
Wiederum höchst sympathisch ist es, die Basis- und Laienarbeit auf ein und demselben Fest im Kontext, manchmal sogar im gemeinsamen Musikmachen leben und erleben zu können. Für Chormusik-Fans sind allein die Sonderkonzerte von Spitzenensembles wie dem RIAS Kammerchor, Furore machenden Jazz-Pop-Chören wie Vocal Line oder den A-cappella-Legenden Wise Guys Gründe genug, nach Frankfurt zu kommen. Das Deutsche Chorfest macht die ganze Stadt zu einer einzigen großen Bühne, auf der aber eben auch Männergesangsvereine, Liedertafeln und Dorfkinderchöre ein Podium finden – in Konzerthäusern und Kirchen, auf Open-Air-Bühnen und Plätzen, in sozialen Einrichtungen und sogar auf Schiffen. Neben den Innenstadtkirchen sowie großen Bühnen auf dem Römerberg und am Mainufer werden auch die Alte Oper und die Hochschule für Musik vier Tage lang ganz im Zeichen der Chormusik stehen. Die Spielstätten liegen so nah beieinander, dass sich Besucher die ganze Vielfalt der Chormusik zu Fuß erschließen können. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Chorfest-Konzerte für das Publikum kostenlos.
Ein „Best of“ der deutschen Chorszene bietet die Nacht der Chöre am 8. Juni mit rund 60 Konzerten an mehr als 10 Spielorten: Zu hören sind neben Mendelssohns „Elias“ als großes Mitsingkonzert in der Alten Oper weitere Spitzenensembles und herausragende Künstler wie der dänische Jazz-Pop-Chor Vocal Line, der Kurt-Thomas-Kammerchor Frankfurt, Klaus Mertens, Vocalive, die Limburger Domsingknaben, Michael Betzner-Brandt mit den Fabulous Fridays, die Frankfurter Chöre AG, Volker Hempfling und viele mehr. Die Eintrittskarte gilt für sämtliche Spielstätten, einheitliche Pausen erleichtern den Konzertwechsel.
Eine erfreuliche Tendenz der jüngsten Zeit wird ebenfalls intensiv zu erfahren sein: Die Besucher des Chorfests werden immer wieder ausgiebig die Möglichkeit zum Mitsingen haben. Pop-Fans etwa sollten zum größten Beatles-Chor Deutschlands auf den Römerberg kommen, wer bislang allenfalls unter der Dusche zu singen gewagt hat, ist beim „Ich-kann-nicht-singen“-Chor bestens aufgehoben. Mehrmals am Tag spielt das Bremer Kaffeehausorchester auf und freut sich über Mitsänger, während die Alte Nikolaikirche mit regelmäßigem Offenen Singen zum geistlichen Chorfestzentrum wird. Und das Ensemble Kunterbunt um den Kinderliedermacher Wolfgang Hering lädt die jüngsten Chorfest-Besucher zum Mitmachen ein.
War die chor.com im September 2011 ein höchst erfolgreicher, allseits gelobter Versuch, die deutsche Chorszene auf der Ebene der Chorleiter, Verbände und der Verlage zusammenzuführen, so bleibt dem Chorfest nun zu wünschen, dass man auch hier nicht DCV-intern unter sich bleibt. Frankfurt 2012 sprengt in Konzeption und Zuspruch nicht nur Grenzen der Anmeldezahlen, es setzt sich auch über Denkverbote in Köpfen hinweg und führt all diejenigen zusammen, die ein Fest des gemeinschaftlichen Singens suchen. Man sieht sich!