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Glucks „Iphigenie auf Aulis“ als Teil eines Pasticcios mit Karl Andrej Beier, Tomás García Santillán, Floriane Petit und Ensemble der HfM Karlsruhe. Foto: Liv-Berit Heinz, Björn Strasser/HfM

Glucks „Iphigenie auf Aulis“ als Teil eines Pasticcios mit Karl Andrej Beier, Tomás García Santillán, Floriane Petit und Ensemble der HfM Karlsruhe. Foto: Liv-Berit Heinz, Björn Strasser/HfM

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Opfer und Ästhetik im „Haus Wahnsinn“

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Mit „RIWA26“ geht die Musikhochschule Karlsruhe in eine interdisziplinäre Reflexion über Wagner
Vorspann / Teaser

Gab es so noch nie: Ein Pasticcio, ausgehend von Richard Wagners Werken. Bei einem Pasticcio wird – so war es im Barock üblich – eine Oper aus bereits existierenden Musiknummern verschiedener Komponisten neu zusammengesetzt. Bei durchkomponierter Musik wie bei Wagner wird solches Collagenformat allerdings anspruchsvoll. Zudem werfen komplexer entwickelte Rollen und Handlungsstränge, wenn sie gefügt und kombiniert werden, neue Fragen und Sichtweisen auf.

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Wie gesagt, anspruchsvoll. Aber vielleicht deshalb genau das Richtige für Studierende, die im Studium tiefer und durchaus experimentierfreudig ins musikgeschichtliche Erbe eintauchen sollen. Eben dies hat das Karlsruher Opernprojekt „Haus Wahnsinn“ am Institut für Musiktheater der Hochschule für Musik Karlsruhe (HfM) unternommen. Am 2. November war Premiere. Mit dem Hochschulorchester unter Leitung von Prof. Alois Seidlmeier ein voller Erfolg. Auf der Bühne und im Orchestergraben wurden dabei ästhetische Parallelen sichtbar und hörbar, die sonst in Wagners Werkgeschichte nur angedeutet bleiben.

Zum Beispiel war Wagner ein Bewunderer Christoph Willibald Glucks. Im Karlsruher Pasticcio waren deshalb unter anderem Glucks „Iphigénie en Aulide“ mit Wagners „Tannhäuser“ verknüpft, wobei die Handlung in ein Szenario der Gegenwart übertragen wurde: Einem familiengeführten Großkonzern droht Bankrott, es sei denn, Tochter Iphigenie opfert sich. Das fordert Vater Agamemnon, ganz entsprechend dem frühantiken – von Gluck adaptierten – Weltbild, dass Menschenopfer die Götter milde stimmen. Anders bei Wagner. Hier opfern sich die Figuren selbst, so etwa Elisabeth im „Tannhäuser“ oder Isolde in ihrem Liebestod.

Sie sind typische sich aufopfernde Frauen, was die Karlsruher Musiktheater-Regie-Studentin Loïs Heirman, die den ersten Teil von „Haus Wahnsinn“ inszenierte, zu einer auf die heutige Wirtschaftswelt übertragenen Interpretation brachte. Die Figuren weisen nämlich Ähnlichkeit mit dem „Glass Cliff Principle“ auf. Den Begriff jener „gläsernen Klippe“ prägten Forschende der University of Exeter, um ein Phänomen zu beschreiben, das sie in Studien zur Besetzung von Führungspositionen beobachteten: Frauen werden demnach häufiger dann in leitende Funktionen berufen, wenn ein Unternehmen sich in einer Phase wirtschaftlicher Unsicherheit befindet. Im übertragenen Sinne werden Frauen also dort „geopfert“ und sie können dort besonders scheitern. Insofern legte das Pasticcio einen tiefgründigen Interpretationsansatz frei, den die Regie mit vielen Metaphern auf der Bühne sichtbar machte. Da wurden etwa Filzmarker, wie man sie von Whiteboards in Business-Workshops kennt, erst wie heiligen Hostien ausgegeben, später wurden sie zum scharfen Messer, mit dem Iphigenie sich ritzt und schließlich – parallel zu „O du, mein holder Abendstern“ – geopfert und erstochen wird, und zwar von der Doppelrolle von Glucks Agamemnon und Wagners Wolfram. Dass Letzterer aus Gründen des wirtschaftlichen Profits zur Rettung einer Firma töten würde, ist nun freilich abwegig. Dass er einen gewollten Suizid treu begleitet, hingegen vorstellbar. Die Collagentechnik legte hier nicht zuletzt spannungsreiche Widersprüchlichkeiten offen.

„Das Format Pasticcio wird dringend gebraucht“, ist Prof. Stephan Mösch überzeugt: „Denn die hermeneutische Regie, die alles geschlossen deutet, hat ausgedient.“ Das zumindest ist die Erfahrung aus Seminaren des Studiengangs Musiktheater-Regie, wo Studierende Werk, Kontext und Charaktere sorgfältig analysieren, um schließlich musikalische und szenische Entscheidungen bewusst treffen und ästhetisch umsetzen zu können. Mösch hat die Gesamtleitung des interdisziplinären Projekts RIWA26, das im Vorfeld des 150-jährigen Bestehens der Bayreuther Festspiele 2026 auf fünf Jahre angelegt ist und Wagners Ästhetik hinterfragen und experimentell ergründen will. Gestartet 2021, wurde bereits viel gemacht. Dieses Frühjahr gab es etwa – in Zusammenarbeit aller drei von der Musikhochschule angebotenen Studienrichtungen Musiktheater-Regie, Musikwissenschaft und Musikjournalismus – ein Symposium und es wurden journalistische Beiträge erstellt. Innerhalb von RIWA26 war die Produktion von „Haus Wahnsinn“ nun ein vorläufiger Höhepunkt. Je Semester bringt die Hochschule ein Musiktheaterstück zur öffentlichen Aufführung, wobei die Studierenden den Prozess einer vollständigen Opernproduktion praktizieren. Zudem werden innerhalb dieser Aufführung Abschlussarbeiten präsentiert und benotet. Doch so aufwändig wie das diesmal im Wolfgang-Rihm-Forum realisierte „Haus Wahnsinn“ war die jährliche Produktion noch nie.

So wurde etwa das Bühnenbild – ein zweistöckiges, überdimensionales Puppenhaus, das die Bayreuther Villa Wahnfried symbolisiert – mit Unterstützung der Bareva Foundation aus Liechtenstein realisiert. Die in der Inszenierung eingespielten Videos von Alfonso Ibáñez, Bühnenbildstudent der Akademie der Bildenden Künste Wien, wurden viele Wochen im Voraus aufwändig vorproduziert. Als musikalische Assistenz holte man sich für die Notation der Übergänge der durchkomponierten Musiken zusätzlich mit Noah Damm, der in Weimar Dirigieren und Gesang studiert hat, Unterstützung von außen. Integriert wurde auch eine Passage aus Wolfgang Rihms Ballettmusik „Tutuguri“, die als Bühnenmusik von der Schlagzeugklasse Prof. Vanessa Porter umgesetzt wurde. Den zweiten Teil von „Haus Wahnsinn“ inszenierte unter dem Titel „Das Prinzip“ Rebecca Gärtner und verband darin „Das Liebesverbot“ des frühen Wagner mit „Wilhelm Tell“ des späten Rossini, wodurch eine Brücke von Pathos zu Parodie geschlagen wurde. Hier ging das Ganze ins Farbenfrohe und Unterhaltsame.

Zwei Folgevorstellungen hatte die Produktion im November und im Anschluss lud die Musikhochschule im Rahmen von RIWA26 zu einem „Wagner-Wochenende“ mit Podiumsdiskussion, Liederabend und Orchesterkonzert, allesamt schlau programmiert. Studierende der Liedklasse Prof. Alexander Fleischer etwa beleuchteten weniger bekannte Facetten Wagners, darunter die selten gehörten Klavierlieder wie „Die zwei Grenadiere“ nach Heinrich Heine. Ihnen gegenübergestellt waren Komponisten, gegen die Wagner als Antisemit einst polemisierte. Beim Konzert mit dem Heilbronner Sinfonie Orchester wiederum vereinten sich erstmals die vier Wagner-erfahrenen Gesangsprofessor:innen der Hochschule Christiane Libor, Christian Elsner, Hanno Müller-Brachmann und Friedemann Röhlig und führten gemeinsam mit Studierenden Stücke von Wagner auf, und von Bellini, Berlioz und Weber. Sie waren für Wagner prägende Zeitgenossen und das Programm legte so die musikalischen Verbindungen von Belcanto bis zum Musikdrama offen.

Bislang hat RIWA26 wunderbar gezeigt, dass Wagner bis heute ein Komponist ist, an dem man sich reiben kann und abarbeiten sollte. Das belegen eindrücklich die filmischen Porträts, Interviews und Podcasts, die Studierende des Instituts für Musikjournalismus in den vergangenen Monaten produziert haben. Sie sind online auf der RIWA26-Homepage zu sehen. Die Videos sind zeitgemäß, auch unterhaltsam und stehen durchaus für eine kritische Grundhaltung ein. Denn Wagners Bedeutung ist nicht nur eine musikalische. Er ist ideologisch belastet, durch seine antisemitischen Schriften und die spätere Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus. Studierende müssen diese historische Reflexion mitlernen und egal, ob in der künstlerischen, musiktheoretischen oder journalistischen Auseinandersetzung, in die kommende Generation weitertragen. RIWA26 jedenfalls war hierfür bislang beste Voraussetzung, dass das gelingt.

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