Seit letztem Sommer ist Hans-Georg Küppers Kulturreferent der Landeshauptstadt München. Er hatte damals die unglücklich agierende Kulturreferentin Lydia Hartl abgelöst. Inzwischen hat er sich ein Bild vor Ort machen können. Reinhard Schulz befragte ihn zu Einsichten und Aussichten.
neue musikzeitung: Die Großstadt hat in den letzten Jahren ihren Charakter weg vom bürgerlichen Repräsentationsort gewandelt. Muss darauf auch die Kulturpolitik reagieren? Und wie soll sie das tun?
Hans-Georg Küppers: Wenn Städte und die Gesellschaft sich wandeln, was ja permanent geschieht, wandelt sich sicherlich auch die Aufgabe der Kultur. Ich glaube: Wir haben zwei Grundaufgaben in der Kultur. Wenn man das schlagwortartig benennen möchte, ist das einerseits die Profilierung nach innen und andererseits eine Profilierung nach außen. Das bedeutet für mich ganz konkret, dass wir in den Städten für eine ausreichende, in die Stadtteile hineingehende Grundversorgung sorgen müssen. Als Beispiele nenne ich Büchereien, Volkshochschulen, Musikschulen oder Stadtteilkulturarbeit, weil ich der Meinung bin, dass in Zeiten der Globalisierung gerade die Kultur vor Ort für die Menschen außerordentlich wichtig ist. Auf der anderen Seite brauchen wir die Spitzenkultur ebenso, sowohl um nach außen zu wirken, aber auch um mit ihr neue Entwicklungen, neue Formen zu realisieren, an denen sich dann wiederum zum Beispiel die freie Kulturszene reiben kann. In vielen Städten habe ich beobachtet, dass man Kultur eher unter dem Aspekt der Medienrelevanz und Imagebildung betrachtet. Diese Einseitigkeit halte ich für falsch, das Wichtigste ist, dass wir Kultur für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort machen.
nmz: Oft wird Kultur als Attraktionssteigerung betrachtet: um Entscheidungsprozesse bei der Ansiedlung industrieller Unternehmen zu beeinflussen oder um sie touristisch interessanter zu machen. Das also würden sie erst an die zweite Stelle setzen?
Küppers: Vielleicht auch gleichgewichtig, mit einer kleinen Priorität gegenüber der Arbeit vor Ort. Industrielle Ansiedlung ist eine segensreiche Nebenwirkung, aber es ist eben nur eine Nebenwirkung. Die eigentliche Frage ist: Warum machen wir Kultur? Was ist ihre ästhetische, was ihre geschichtliche Bedeutung für uns? Wie kann sie uns in unserem Leben weiterhelfen? Kann sie uns neue Sichtweisen ermöglichen? Das ist die Hauptaufgabe von Kultur: Das Widerständige zu ermöglichen, quer zu denken, noch nicht Gedachtes auf den Punkt zu bringen.
nmz: München bezeichnet sich als Musikstadt. Betrachtet man die Musikgeschichte, dann ist diese Behauptung nur für einige Phasen – Lasso im 16. Jahrhundert, Wagner, Bruckner, Mahler von 1860 bis ins beginnende 20. Jahrhundert und wenig anderes – berechtigt. Wie sehen Sie diesen Begriff?
Küppers: München beansprucht meiner Meinung nach zu Recht diesen Titel, ohne dabei andere Städte auszugrenzen. Mit den hochqualitativen Orchestern, die wir haben, ich nenne nur die Münchner Philharmoniker, das Symphonieorchester des BR, das Staatsorchester oder das Münchener Kammerorchester, sind wir im qualitativen Bereich weltweit auf einem Spitzenniveau. Durch Aktivitäten wie das soeben stattfindende musica viva Festival oder durch die Musikbiennale hat sich München darüber hinaus für die Neue und experimentelle Musik einen Namen gemacht, den es in dieser Art und Weise nicht noch einmal gibt.
nmz: Was man feststellen kann oder muss, ist, dass sich die kulturellen Angebote in den Großstädten mehr und mehr angleichen – ähnlich wie ihr Aussehen in den Fußgängerzonen. Auf der anderen Seite hat München ein ganz eigenes Flair, eine eigene Witterung, die von der kulturellen Entwicklung herrührt. Karl Valentin bis Achternbusch, die Liberalitas in ästhetischen Fragen eines Karl Amadeus Hartmann und so weiter. Welche Rolle spielen für Sie diese lokalen Prägungen?
Küppers: Also wenn man nur noch am Ortseingangsschild spürt, dass man in einer anderen Stadt ist, und dort nicht ein eigenes Leben, ein eigenes Flair, ein eigenes Gefühl entwickelt wird, dann wären wir auf einem sehr schlechten Weg. Wenn Internationalisierung bedeutet, dass Städte sich kulturell wie architektonisch immer mehr angleichen, dann wäre das sicherlich eine Fehlentwicklung. Deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass man in den Städten das, was aus der Vergangenheit kommt, pflegt und weiterentwickelt. Wenn man das auf den Begriff der Volkskultur bringt, bedeutet das: Volkskultur ist keine rückwärtsgewandte Kultur, die sich nur mit dem Brauchtum befasst, sie muss vielmehr nach vorne gewandt und zur eigenen Qualität gemacht werden – ich denke an Polt, an die Biermösl Blosn und so weiter –, aber auch die Volkskultur von Migrantinnen und Migranten mit einschließen.
nmz: Zu den Münchner Philharmonikern, eine der kostenintensivsten kulturellen Einrichtungen Münchens: Sie stehen ja neben anderen, qualitativ gleichwertigen Orchesterapparaten, wobei sich die Programmatik überschneidet, da das Repertoire sich überall immer mehr auf Klassik bis Romantik einschränkt. Sollte das städtische Orchester stattdessen eine eigene Kontur entwickeln, vielleicht hin auf andere Orchesterformen (etwa mit Unterformationen speziell für alte oder zeitgenössische Musik) oder andere Präsentationsweisen? Wie sollte es sich in dieser Umgebung platzieren?
Küppers: Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dass durch die Wahl eines Chefdirigenten oder Generalmusikdirektors auch die Richtung, die ein Orchester nehmen will, bestimmt wird. Diese Richtung würde ich als Kulturreferent auch genau diesem Chefdirigenten beziehungsweise dem Generalmusikdirektor überlassen. Das ist seine künstlerische Verantwortung, in die ich mich niemals einmischen würde. Die Gefahr der programmatischen Doppelung würde ich dabei in Kauf nehmen. Drei Mal Beethoven spielen ist nicht drei Mal den gleichen Beethoven hören.
nmz: Der Aspekt der zeitgenössischen Musik spielt hier freilich meist keine Rolle.
Küppers: Auch das gehört zur Eigenverantwortung des jeweiligen Chefdirigenten oder Generalmusikdirektors, aber wir haben in München immerhin gute Ausweichmöglichkeiten, wenn ich auf musica viva, Biennale oder auch auf die Programmgestaltung des Münchener Kammerorchesters blicke. Bei diesem Orchester ist die Konfrontation von zeitgenössischen Werken mit der Tradition ein Schwerpunkt.
nmz: Und das mit großem Publikumszuspruch! Welchen Stellenwert hat für Sie dieser programmatische Ansatz?
Küppers: Das Kammerorchester bedient ein Publikum und eine Musikrichtung, die sonst so in München nicht bedient werden würden. Auch Komponistinnen oder Komponisten werden in ihrem Schaffen gefördert. Ich finde das mehr als verdienstvoll: das Publikum mitnehmen; von Gewohnten zum Ungewohnten. Diese Arbeit wird die Neue Musik in München auch weiterhin stabilisieren.
nmz: Die Musikstadt München hat kein fest installiertes Ensemble für Neue Musik und auch kein repräsentatives mit historischen Aufführungsformen. Wäre da nicht an eine größere Aktivität in diese Richtung zu denken?
Küppers: Nun, das gibt es in anderen Städten, etwa in Frankfurt oder Wien, auch als Landesorchester die Musikfabrik NRW. Im Augenblick ist das Münchener Kammerorchester hier das fest installierte Ensemble für Neue Musik. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es unbedingt notwendig sein muss, ein weiteres eigenständiges Ensemble zu gründen. Nach meinen Erfahrungen haben diese Ensembles leider auch Abnutzungserscheinungen. Ich finde es interessanter, die Spitzenensembles der Welt hier in München immer wieder zu Gast zu haben. Sie können dem Musikinteressierten einen unmittelbareren und umfassenderen Eindruck in das gegenwärtige musikalische Geschehen vermitteln.
nmz: Ein eigenes Ensemble sehen Sie zurzeit nicht? Es gab ja durchaus Ansätze, freie Ensembles existieren.
Küppers: Ich sehe es jetzt nicht. Aber mit den freien, sich immer wieder formierenden Ensembles über Projekte zusammenzuarbeiten, erachte ich letztlich als erfrischenderen Weg, da sich auch stets neue Konstellationen ergeben. Das wollen wir auch erheblich fördern, dafür wollen wir auch Räume (auch im Sinne des Wortes als Proben-/Aufführungsräume) öffnen: auch für das Experiment, das gewiss kein Massenpublikum anzieht und das auch immer wieder scheitern dürfen muss. Das ist der kulturelle Nährboden einer Stadt.
nmz: Musikvermittlung und Musikerziehung. Ist das auch städtische Aufgabe?
Küppers: Ich sage vorweg: Schulen können nicht alles leisten. Wir versuchen in vielen Fällen alles auf die Schulen abzuwälzen. Das können sie, vor allem in Zeiten von G8, gar nicht leisten. Deshalb haben wir in diesem Bereich als Stadt auch eine wichtige Aufgabe. Ich möchte, dass unsere Orchester und von uns unterstützte Einrichtungen eine Gehstruktur entwickeln. Das heißt: in die Stadtteile hineingehen, um das zu erklären und vorzuführen, was man künstlerisch vollzieht. Nachhaltigkeit entsteht aus Hingehen, Erklären, Erläutern. Nicht belehrend, sondern durch das Aufzeigen von Sinn, von der Form des eigenen Arbeitens. Als städtische Einrichtung haben wir die Pflicht, die Menschen dort aufzusuchen, wo sie sind und nicht zu warten und zu fragen: Warum kommt ihr denn nicht? Wir müssen vor Ort gehen und dort die Jungen wie die Alten ganz direkt begeistern.