Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges änderten sich die musikalischen Hörgewohnheiten in Deutschland zunächst kaum. Zwar war die zuvor ständig präsentierte Marschmusik passee und es belebte sich die Tanzmusik unter dem Einfluss des amerikanischen Swing, aber die sinfonische Unterhaltungsmusik beherrschte als populäre Tochter der seriösen historischen Tonkunst neben den aktuellen Schlagern die Programme der zahlreichen Rundfunksender.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges änderten sich die musikalischen Hörgewohnheiten in Deutschland zunächst kaum. Zwar war die zuvor ständig präsentierte Marschmusik passee und es belebte sich die Tanzmusik unter dem Einfluss des amerikanischen Swing, aber die sinfonische Unterhaltungsmusik beherrschte als populäre Tochter der seriösen historischen Tonkunst neben den aktuellen Schlagern die Programme der zahlreichen Rundfunksender.Der Jazz galt vorläufig weiterhin – wie seit den späten 20er-Jahren – als fremdartiger Bürgerschreck. Nur die Jugend interessierte sich für diese auffällig rhythmisch geprägte Musik mit zunehmender Begeisterung, sogar jenseits der sonst so üblichen sozialen Begrenzungen. In den Metropolen wie Berlin (West), Hamburg, München, Frankfurt und Köln gründeten Fans Jazzclubs und in den frühen 50er-Jahren wurden die ersten Jazz-Festivals initiiert. Dort, 1955 beim 3. Deutschen Jazz-Festival in Frankfurt am Main, katapultierte sich Helmut Brandt mit seiner Combo in die vorderste Reihe der deutschen Jazzmusiker. Begeistert umjubelte das Publikum die junge Truppe aus Berlin, mit der Besetzung Baritonsaxophon, Trompete, Piano, Bass und Drums. Die Arrangements schrieb alle Helmut Brandt; auch seine ersten Kompositionen entstanden, wie zum Beispiel die berühmte Ballade „Nordlicht“.Strenge Disziplin
Über die strenge, geordnete Arbeit mit seinen Musikern erzählte er später: „Wir waren immer sehr diszipliniert. Meine damalige Combo übte sehr viel und das Publikum hat sich gewundert, wie alles aus dem ‚Effeff‘ so schön klappte. Wir haben uns die komplizierten Sachen immer wieder vorgenommen, da etwas gefeilt und dort etwas verbessert und jeden Abend öffentlich gespielt.“
In der Bundesrepublik begann sich der Jazz zu emanzipieren, und wenngleich die Musikbranche weiterhin von den tradierten Genres beherrscht wurde, konnten sich doch deutsche Eigenarten in dieser bisher ausschließlich nach US-amerikanischen Vorbildern geprägten Musik langsam herausbilden. So fremd, wie es uns verkrustete Vorurteile immer wieder weismachen wollten, war diese Musik ohnehin nicht. Sind doch neben ihrem afrikanisch-amerikanischen Ursprung gerade im harmonischen Bereich und den vom Musical des frühen 20. Jahrhunderts entlehnten Elementen transponierte europäische Anteile deutlich zu erkennen.
Als Miles Davis 1948 das Capitol Orchestra gründete und mit dem Arrangeur Gil Evans das Klangideal der Cool-Jazz-Ära begründete, war Helmut Brandt 17 Jahre alt und studierte in Berlin am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium Klarinette und Tenorsaxophon. Er spielte bald in verschiedenen Berliner Clubs und holte sich erste BigBand-Erfahrungen in den bekannten Orchestern Lubo D’Orio und Kurt Widmann, nachdem er zum Baritonsaxophon überwechselte.
Als Arrangeur und Komponist Autodidakt, erarbeitete er sich durch das Abhören und Nachschreiben von Jazz-Schallplatten seine Orchestrierungskenntnisse hartnäckig selbst. Helmut Brandt im Originalton: „Ich habe die großen Jazzmusiker akribisch studiert. Stan Kenton kenne ich seit meiner Jugend in- und auswendig. Von Schellack-Platten habe ich etwa zehn Titel des Miles Davis Capitol Orchestras abgeschrieben und nacharrangiert. Es waren sehr komplizierte Klänge, sehr schwer zu hören.“
Nach dem fantastischen Erfolg auf dem Frankfurter Jazzfestival, seine Komposition „Sum“ war dort der meistdiskutierte Beitrag, sah er für die Realisation seiner größeren kompositorischen Visionen nur noch Möglichkeiten beim Rundfunk. Nach weiteren herausragenden Erfolgen als Solist und Komponist, zum Beispiel mit dem 1957 im „SDR-Treff Jazz“ uraufgeführten „Konzert für Jazz Combo“ und 1958 einer Auftragskomposition für die All Stars des Frankfurter Jazz-Festivals, trat Helmut Brandt 1959 dem damals über Deutschland hinaus bekannten RIAS-Tanzorchester Berlin als Baritonsaxophonist und Arrangeur bei. Im Verlaufe der Jahre schrieb er neben populären BigBand-Arrangements zahlreiche große Orchesterwerke, wie „Reise nach Prag“ in 3 Sätzen, in der außer der Big Band noch Streicher, Hörner und Holzbläser mitwirken. 1998 wurden durch das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin und die RIAS-BigBand seine „Symphonischen Impressionen“ im Konzerthaus Berlin uraufgeführt. Diese sinfonischen Jazzkompositionen gehören auf diesem Gebiet zu dem Interessantesten, was im Deutschland des 20. Jahrhunderts entstand.
Zunächst an der Mixtur Capitol-Orchestra und Hindemith (Quartenharmonik) orientiert, wobei er die Quartenharmonik für sich selbst neu entdeckte, erweiterte sich später sein stilistischer Rahmen über die Romantik des 19. Jahrhunderts bis zum Bach’schen Barock des 18. Jahrhunderts. Stilistisch mit großem Geschmack geordnet, fließen in seinen Werken Übergänge vom Jazzsolo in strenge orchestrale Kontrapunktik und wieder zurück, musikalisch elegant und nicht brüchig abrupt.
Formal übersichtlich geordnet, wird so dem Hörer das Mitempfinden dieser harmonisch wie rhythmisch oft sehr komplexen Musik ermöglicht. Expressive Orchesterparts kontrastieren mit ruhenden Orgelpunkten oder balladenhaften Blues-Sequenzen und erleichtern dem Hörer die Aufnahmebereitschaft, ohne einem banalen Behaglichkeitsanspruch zu hofieren. Die Verbindung zwischen Jazz und Neuer Musik gelingt hier dank der einfühlsamen Inspiration dieses Autors, wobei beide Gattungen zu einer musikalisch eigenwilligen, reizvollen Symbiose verschmolzen werden.
Schöpferischer Eifer
„Ohne ungewöhnliche Gaben baut niemand ein Lebenswerk“, schreibt Thomas Mann. Helmut Brandt war ein ungewöhnlicher Musiker. Sowohl als einer der hervorragendsten Saxophonisten wie als Komponist blieb er bis zuletzt voll schöpferischen Eifers, voller Neugier und beständigem Fleiß. Ein Feuilletonist schrieb: „Musik, det war sein Leben. Und sonst ja nischt“. Diese journalistische Ahnungslosigkeit befremdet, zumal sich in diesem Nachruf einer großen Tageszeitung weitere Ungereimtheiten finden.
Musik war wohl sein Leben, aber er beschränkte seine wachsame Neugier eben keineswegs nur auf diese. Man konnte Tage mit ihm wandern, ohne über Musik zu reden. Es wurde von ihm ebenso eingehend und kenntnisreich über das römische Weltreich und seine zunächst griechische Kulturabhängigkeit gesprochen wie über das frühe Christentum; aber auch über Naturwissenschaft oder die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Er konnte pausenlos über Gott und die Welt diskutieren, mit Ernst und Witz. Er war ein Berliner aus einfachen Verhältnissen, die er nicht verleugnete, denen er aber längst entwachsen war, bei bleibender Liebe zu seiner Herkunft.
Trotz der großen Erfolge und Anerkennungen blieb er zeitlebens bescheiden, umgänglich und freundlich, aber ungeduldig und suchend.
Als er mit 65 Jahren aus der RIAS-BigBand ausscheiden musste, arbeitete er erfolgreich weiter mit seinem bereits vorher gegründeten Helmut-Brandt-Mainstream-Orchestra, dessen reichhaltiges Repertoire er aus eigenen und anderen populären Jazznummern selbst schrieb. Vor einem Jahr wurde er für sein musikalisches Lebenswerk mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
Unser natürlicher Lebenswille verhindert oft die Ahnung vom Tode, aber sie streift uns gelegentlich, so auch den vitalen, jugendlichen 68-jährigen Helmut Brandt, als er vor zwei Jahren sagte: „So viel möchte ich noch machen! Mozart und Beethoven – nicht, dass ich mich mit ihnen vergleichen wollte – aber beide hatten wohl das ganze Leben Angst, nicht mehr genug Zeit zu haben, all das aufzuschreiben, was ihnen im Kopf herum spukte. Diese Angst kenne ich auch.“
Ihn ereilte ein plötzlicher Herzschlag bei einem Spaziergang in Stuttgart, wo er mit seinem großartigen Mainstream-Orchestra bald wieder auftreten sollte und dessen neueste CD demnächst erscheinen wird.