Dieses Mal lag das pure Vergnügen in der Kühle. Zur hochsommerlichen Hitze am Wochenende lud die Dresdner Semperoper die Fangemeinde des gepflegten Tanzes in vielen Spielarten zu einem Spielzeitabschluss ein, der Freude machte.

Begeisterndes Spielzeitende in Dresdens Semperoper mit dem Tanzabend „Vice Versa“
Unter dem (sagen wir mal frei schwebenden) Titel Vice Versa war im ersten Teil das 2014 in Göteborg uraufgeführte Stück „Noetic“ von Sidi Larbi Cherkaoui als Erstaufführung beim Semperoper Ballett zu erleben.Im zweiten Teil gab es die Uraufführung der Choreografie „November“ des niederländischen Geschwisterpaares Imre und Marne von Opstal. Die Musik stammte im ersten Fall vom polnischen Komponisten Szymon Brzóska (*1981), der schon oft für Cherkaoui komponiert hat; im zweiten Teil vom renommierten Esten Arvo Pärt (*1935). Das war allein schon ein gleichsam eigener Genuss, weil die Musik live aus dem Graben von der Sächsischen Staatskapelle unter der kundigen Leitung von Charlotte Politi beigesteuert wurde. Das Faszinierende an diesem Abend war der ästhetische Kontrast zwischen den beiden Teilen. Wobei in jedem Fall eine fragile, große Metapher eine wichtige Rolle spielte.
In Cherkaouis, von Stephan Laks choreografisch einstudiertem Tanzstück „Noetic“ sind es flexible, flache Polycarbonatstäbe aus denen die 19 Tänzer Bögen, Reife, Dächer wir in einem Barockgarten und am Ende ein Etwas kreierten, das zeitweise wie ein Nest wirkte, sich dann aber als eine brüchige globusähnliche Skulptur erwies, die einen einzelnen Menschen einschloss. Alles in dem karg weißen Raum von Antony Gromley, in dem die eleganten, normierend bürokompatiblen Kostüme (nach dem originalen Design von Les Hommes) gut kontrastierend wirkten. Den Auftakt für dieses Hohelied eines Wechselspiels des kreativ Chaotischen und des geometrisch Exakten liefert Shogo Yoshii, der sich mit Teiko Trommeln, dem japanischen Streichinstrument Kokyu und Flöte dem satten Orchesterklang beimischt, ihn antreibt oder ihm widerspricht. Auch wenn die lateinischen Gesänge von Miriam Andersén nicht übersetzt werden - dank der deutschen und englischen Texteinwürfe wird klar, dass hier Wirklichkeit und ihre Wahrnehmung auf ihre sozusagen mathematischen Elementarteilchen zurückgeführt werden.
Immer aufeinander bezogen formieren sich Gruppen und Ensemble und lösen sich wieder auf. Mehrfach schreitet Christian Bauch auf High Heels gemessenen Schrittes diagonal über die Bühne. Und wartet später mit der Erkenntnis auf, dass das mit verblüffender Eleganz auch rückwärts geht. Bewegung erfasst hier immer den ganzen Körper. Schließlich findet sich das Ensemble im Spiel mit den biegsamen Stabelementen zu einem kreativen Ganzen zusammen – und der Mensch mittendrin.

Der Titel November für den zweiten Teil erfasst nur einen Teil der assoziativen Wahrheit dieser Choreografie. Wenn sich zu Beginn kompliziert verschränkte Traversenelemente in den Raum und dann in die Höhe des jetzt nicht mehr begrenzten Raumes schieben, wundert man sich noch über das scheinbare Chaos, hält es gar für eine Gegenthese zu dem Lob der geometrischen Korrektheit in Bild und Bewegung des ersten Teils. Doch wenn sich dann der wie ein Hauch wehende Riesenschleier entfaltet und im faszinierenden Duett mit der Windmaschine ein Eigenleben entfaltet, wird der beim Betrachter zu einem Zaubermantel der Phantasie. Mal teilt er die im hautfarbenen Einheitsdress Nacktheit assoziierenden Tänzer in zwei Gruppen von denen eine ins scheinbare Nichts entschwindet. Mal weht er ein einzelnes Paar nach vorn als wären es Adam und Eva auf dem Weg aus dem Paradies in die Welt. Er könnte glatt der Saum des Mantels der Geschichte sein, in dem sich der Wind verfängt, der (wie beim berühmten Angelus-novus-Text von Walter Benjamin) vom Paradies her weht.
Der wichtige Partner ist natürlich auch hier das bestens präparierte Dresdner Ensemble. Es sitzt am Boden, bildet Gruppen, die lösen sich auf und formieren sich neu. Manchmal frieren die Bilder ein, sie brauchen die Konfrontation mit dem Wehen. Irgendwann gehen sie zu Boden als wären sie gerade aus einem Höllensturz-Gemälde gefallen. Doch mit ihrem ausführlichen Adam-und-Eva Pas de Deux weisen James Kirby Rogers und Nastazia Philippou einen Weg aus der Melancholie dieses metaphorischen Novembers.
Jubel für Alle!
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