Auf den Opernbühnen ist Mozarts und Da Pontes „Don Giovanni“ ausgesprochen reisefreudig. Durch die Welt und durch die Zeiten. Dieser „Held“ hat schon überall sein Unwesen getrieben. Ein Werk avanciert nicht umsonst zur „Oper der Opern“. In Ilaria Lanzinos Inszenierung in Dortmund muss die Titelfigur nicht mal ihr historisches Outfit ändern: Vom Sexappeal eines Popstars aus den Zeiten des Ancien Regime „profitiert“ dieser Verführer auch, wenn die Mode alle anderen Frauen und Männer im Stück in der schnöden Gegenwart verortet.

Mit Don Giovanni (Denis Velev) und Zerlina (Sooyeon Lee) haben sich in Ilaria Lanzinos Inszenierung zwei Jäger:innen gefunden. Foto: Björn Hickmann
Don Giovanni for ever: In Dortmund zeigt Ilaria Lanzinos Mozart-Inszenierung Don Giovanni als Gast aus einer anderen Zeit
Regisseurin Ilaria Lanzino, Frank Philipp Schlößmann (Bühne) und Emine Güner (Kostüme) spielen in ihrer Inszenierung an der Oper Dortmund bewusst mit diesem erotischen Knistern über die Jahrhunderte hinweg. Denis Velev darf sich als Don Giovanni in einer historischen Aufmachung mit Umhang, langen, lockigen Haaren und der geschmeidigen Eleganz von höfischen Manieren in seinen Gesten sonnen und damit einen Schatten auf die anderen werfen.
Er verkörpert so die sozusagen klassische Was-wäre-wenn-Versuchung jeder bürgerlich heteronormativen Beziehung. Bei den Männern sorgt das für ein Gefühl, das den Konkurrenzneid zum mordbereiten Hass eskalieren lässt: Masetto und seine Leute verkünden großmäulig, dass sie Don Giovanni totschlagen wollen. Sie würde das wahrscheinlich sogar machen, wenn sie nicht so einfältig wären, sich von ihm täuschen zu lassen, als der ihnen vorgaukelt, er sei Leporello. Bei den Frauen dagegen ist der Name mit einem sehnsuchtsvollen Augenaufschlag verbunden und setzt jeden rationalen Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Versprechungen außer Kraft. Schließlich kann etwa die gewiefte Zerlina unmöglich ernsthaft glauben, dass er sie am Tag ihrer schon laufenden Hochzeit mit Masetto selbst heiraten würde. Auch Elvira dürfte eigentlich nicht immer wieder auf ihn hereinfallen. In diesem Fall hat die überambitionierte Lesart von Lanzino einen Punkt: Elvira fällt bei ihr tatsächlich nicht erneut auf Don Giovanni herein. Sie nimmt, was sie kriegen und (aller Wahrscheinlichkeit nach) für lange Zeit behalten kann: Leporello. Außerdem hat sie sich seit ihrer ersten Begegnung mit Don Giovanni ein eigenes Register für ihre Eroberungen zugelegt und fleißig daran „gearbeitet“, es zu füllen.
Das Problem sind die Regeln – nicht die Spielenden
Die Idee Elvira zu einer Art weiblichem Don Giovanni zu machen, die ihre Aktivitäten selbst akribisch protokolliert, hat für sich genommen durchaus einen gewissen Reiz. Aber wieso sie dann in der szenischen Umsetzung dieser Idee bei allen Männern, denen sie Avancen macht, abblitzt, bleibt unverständlich. Vor allem, weil der Versuch, aus Tanja Christine Kuhn eine so unattraktiv gealterte Elvira zu machen, dass dieser Misserfolg bei ihren oberflächlichen Gegenspielern nachvollziehbar wäre, grandios missglückt. Genau das ist aber die Crux bei vermeintlich feministischen Neudeutungen. Dichter und Komponist stehen bereits auf der Seite von Elvira, auch wenn sie nicht versucht, Giovannis Register zu übertrumpfen. Wenn sie es aber macht, dann verhält sie sich als ehemalige Don-Giovanni-Verführte genauso aggressiv besitzergreifend wie ihr Verführer. Die Frau übernimmt das düster „Männliche“. Das Problem bleiben die Regeln, nach denen hier um die Wette erobert und verlassen wird. Nicht, wer diesen Regeln folgt. Weiter käme hier, wer schon da „Così fan tutte“ mitdenken würde.
Lässt man sich aber wie Lanzino zu sehr vom Potenzial des puren szenischen Effekts verführen, wird es albern. Es mag nachvollziehbar sein, dass die hochschwangere Donna Anna sich sträubt, dem Willen ihres Vaters nach den langweiligen Ottavio zu heiraten, damit das Kind auch offiziell einen Vater hat. Aber dass Don Giovanni die Hochschwangere auf dem Wohnzimmertisch beinahe oder tatsächlich vergewaltigt, ist schon eher eine Verleumdung im MeToo-Übereifer. Mal abgesehen davon, dass die Herren im Nebenzimmer das lange Zeit, trotz offener Tür nicht mitkriegen und nur der Vater einschreitet. Auch, dass Zerlina in der eigenen Hochzeitsnacht für den Fall, dass sich noch was Besseres als ihr Masetto findet, ein Kondom dabei hat, das schließlich mit Giovanni im eigenen Hochzeitsschlafzimmerbett zur Anwendung kommt, ist eher starker Tobak, als überzeugende Verdeutlichung. Gerade bei den Da-Ponte-Opern sind die mitgelieferten Doppeldeutigkeiten und Anspielungen allemal prickelnder als die handgreiflichen Verdeutlichungen heutiger Besserwisserei.
Auf und Ab der freien Liebe
Auch wenn es Elvira wild treibt, Zerlina ein Kondom fürs Fremdgehen einplant und Anna in der Pause ein Kind bekommt: Am Ende läuft es dann doch darauf hinaus, einen vermeintlichen Verführer zu all dem zur Hölle zu schicken. Die Medusa, die als Bild an Masettos Schlafzimmerwand hing, wird zu einem überlebensgroßen Monster, das am Ende Don Giovanni zur Stecke bringt und die Oper vorzeitig (ohne das kollektive Resümee) enden lässt. Dass Don Giovanni und sein „Viva la liberta“ in Wahrheit die ersehnte und gefürchtete Projektion einer (vielleicht utopischen) sexuellen Freiheit jenseits festgelegter Normen der verschiedensten Art ist, wird auch bei Lanzino deutlich. Mit einer drastischen Rückabwicklung dieser Utopie durch vereinte Frauenpower auf der Bühne und eine damit verbundene solidarische Überdeutlichkeit der Regie hebelt sie ihr Anliegen aber über weite Strecken selbst aus.
Am Pult der Dortmunder Philharmonikern setzt der Leiter der Göttinger Händelfestspiele George Petrou mit all seiner Affinität zur barocken Musik auf deren Nachklang in einem flüssigen Mozartsound, der keiner Effekthascherei bedarf. Es macht allerdings Freude, wenn es dann bei Don Giovannis Champagner-Arie („Auf denn zum Feste“) auch im Graben mal mit einer Extraportion Furor richtig zur Sache geht.
Das Protagonisten Ensemble verbindet die darstellerischen Herausforderungen mit vokaler Überzeugungskraft. Herausragend ist der Don Giovanni von Denis Velev bei dem sich schauspielerische Präsenz mit der virilen Eloquenz seiner Stimme verbinden. An seiner Seite liefert Morgan Moody einen Leporello, der bei aller Loyalität nicht nur selbstbewusste Distanz zu seinem Chef wahrt, sondern am letzten Abend in dessen Leben auch mehr Erfolg bei den Frauen als sein Chef hat. Sich als Don Giovanni auszugeben, konnte Donna Elvira nicht täuschen: Sie hat Leporello sofort erkannt, geohrfeigt und sich für ihn als Partner entschieden. Auch wenn Tanja Christine Kuhn nicht wirklich die alternde Frau verkörpert, die ihr die Regie zugewiesen hat, eine darstellerische Glanzleistung liefert sie allemal. Brillant ist außerdem die sichere und wohlklingende Strahlkraft, mit der Anna Sohn ohne Überdruck ihre Donna Anna ausstattet. Sungho Kim ist als Don Ottavio zwar kein Sympathikus, punktet aber mit seiner kraftvollen Höhe. Sooyeon Lee hat es als jugendlich verspielte Zerlina faustdick hinter den Ohren, sie wird bei ihrem Masetto allemal die Oberhand behalten, auch der bei Daegyun Jeong seine Eifersuchtsanfälle nur schwer zügeln kann. Artyom Wasnetsov komplettiert mit machtvoller Erscheinung und Stimme als Commendatore das Ensemble, das mit dem von Fabio Mancini einstudierte Opernchor darstellerisch und vokal gut harmoniert.
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