Wie ist es um die zeitgenössische Musik im Konzertbetrieb bestellt? Miserabel, wenn man dem um sich greifenden Gejammere über Subventionsabbau und Publikumsschwund in deutschen Städten glauben soll. Bestens, wenn man woanders hinblickt – zum Beispiel zum Lucerne Festival, wo sich die Gegenwartsmusik zu einem blühenden Bestandteil des Festivalprogramms entwickelt hat. Mit einer umfangreichen Werkschau von Harrison Birtwistle und der von Pierre Boulez ins Leben gerufenen „Lucerne Festival Academy“ (mehr dazu in der nächsten nmz) hat die produktive Auseinandersetzung mit der Moderne nun eine neue Qualität erreicht.
Was andernorts ungeprüft als Leistungsausweis gilt, nämlich möglichst viele „UAs“ hinter den Werktiteln, fand sich zwar in Luzern nur fünf Mal. Doch was mutige Programmierung und neue Initiativen angeht, stellt dieses Traditionsfestival inzwischen vieles, was in der zeitgenössischen Szene geschieht, in den Schatten. Auch in Frage. Denn während an den traditionellen Neue-Musik-Börsen noch immer der Insiderhandel mit Komponisten und Werken blüht, arbeitet man in Luzern erfolgreich an der Öffnung des Zirkelwesens.
Schwierige Kompositionen der letzten fünfzig Jahre finden den Weg zu einem Publikum, das bisher vor allem auf traditionelle Sinfonik abonniert war, die lokale Musikhochschule wird in die Aktivitäten einbezogen, Schulklassen besuchen die Proben internationaler Gastorchester, die im KZ Theresienstadt entstandene Kinderoper „Brundibár“ von Hans Krása wird mit Kindern einstudiert, öffentliche Gespräche mit Komponisten und Interpreten bereiten die Besucher auf die anspruchsvollen Programme vor.
Ein Kernpunkt der Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die von Festivalleiter Michael Haefliger und seinem Dramaturgen Mark Sattler ebenso umsichtig wie konsequent betrieben wird, ist der Composer-in-Residence. Er bildet die Schnittmenge, an der alle Programmbereiche teilhaben: Von den Prestigeveranstaltungen der internationalen Gastorchester über die Kammerkonzerte und die Festival Academy von Boulez bis zu den lokalen Hochschulbeiträgen. Ein Basler Chemiegigant als Hauptsponsor sorgt obendrein für eine gediegene Präsentation des Künstlers in Form einer Buchpublikation, garniert mit Fotos von der Mäzenin Betty Freeman, der es in Luzern inzwischen besser gefällt als in Salzburg.
Der diesjährige Gastkomponist war Harrison Birtwistle. Von ihm erklangen fast zwanzig Stücke – eine Werkschau von einzigartigem Umfang, die umso beeindruckender ist, als Birtwistles sperrige und groß dimensionierte Stücke vom Hörer große Konzentration und Ausdauer verlangen. Das Orchesterwerk „Earth Dances“, grandios zur Aufführung gebracht durch das von Boulez neu gegründete und dirigierte Orchester der Festival Academy, ist die vielleicht charakteristischste, sicher aber opulenteste Ausprägung von Birtwistles kompositorischem Denken: ein vierzigminütiges, extrem dicht gearbeitetes Auf und Ab einer brodelnden Klangmaterie, die sich zu immer neuen Konstellationen zusammenballt und den Zuhörer auf eine Abenteuerreise mit ungewissem Ausgang mitnimmt.
Das formale und strukturelle Modell dieses Monumentalwerks von 1985/86 ist bereits in älteren Ensemblewerken vorgeprägt, die nun auch zu Gehör gebracht wurden, so etwa „Tragoedia“ (1965), „Silbury Air“ (1977) und „Secret Theatre“ (1984). Bezeichnend für diese – auch für das neuere „Theseus Game“ für Ensemble mit zwei Dirigenten – sind die Überlagerung von instrumentalen Schichten, die klangsatten Heterophonien, und die wandernden Instrumentalisten, die wie Jazzsolisten abwechselnd an die Rampe treten oder sich immer wieder zu andern Gruppen formieren.
In der überlegenen Organisation fluktuierender Klangmassen scheint sich Birtwistles ungestüme kompositorische Fantasie am besten artikulieren zu können. Die 26 „Orpheus Elegies“ für Countertenor, Oboe und Harfe, von Andrew Watts, Heinz und Ursula Holliger überaus kompetent uraufgeführt, lassen demgegenüber eher Fragen offen. Sie enthalten zweifellos faszinierende Momente, als einstündige Aneinanderreihung formaler Miniaturen überzeugt das Ganze aber nicht restlos. Ebenso die im gleichen Konzert uraufgeführten Bearbeitungen von Arien und Choralvorspielen Bachs: Sie waren Gelegenheitsarbeiten eher beiläufiger Art.
Von der imposanten Birtwistle-Werkschau wurden andere Beiträge beinahe überstrahlt, obwohl sie nicht minder bedeutsam waren: Die packende Aufführung von Nonos „Canto Sospeso“ mit dem Ensemble Modern Orchestra unter Heinz Holliger, die Schweizer Premiere von Klaus Hubers introvertiertem Kammerkonzert „Die Seele muss vom Reittier steigen...“ mit Kay Wessel, Walter Grimmer und Max Engel, den Solisten der Donaueschinger Uraufführung von 2002, die Uraufführung eines architektonisch weiträumigen Klarinettenquintetts von Peter Maxwell Davies mit Dimitri Ashkenazy und dem Brodsky Quartett. Dem durchwegs sehr hohen Interpretationsniveau aller Konzerte entsprach ein Publikumszuspruch, der sich von dem der klassischen Konzerte kaum unterschied. Die Luzerner Erfahrungen stimmen optimistisch für die Aussichten der Neuen Musik zu Beginn des 21. Jahrhunderts.