Hauptbild
Die Solisten, der Komponist und der Dirigent der „Cantata in tempore belli“. Foto: Michael Zapf

Die Solisten, der Komponist und der Dirigent der „Cantata in tempore belli“. Foto: Michael Zapf

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Flammender Appell für den Frieden: Jörg Widmanns „Cantata in tempore belli“ in der Hamburger Elbphilharmonie uraufgeführt

Vorspann / Teaser

Wo ist der Platz von Musik, Literatur und Kunst in einer Zeit der Krisen und Kriege? Der 1973 in München geborene Jörg Widmann beantwortet diese Frage eindeutig: Die Künste müssen sich einmischen und Stellung beziehen, dürfen nicht im Nichtstun verharren. Komponieren ist für ihn immer Reflex auf die Gegenwart. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Als der Bosnien-Krieg wütete, hatte er mit einem kleinen Stück für Violine, Klarinette und Klavier reagiert. Für das Bachfest Leipzig komponierte er 2023 zum 300-jährigen Amtsantritt Bachs als Thomaskantor eine Friedenskantate für Gesangssolisten, Chor und Orchester auf Texte von Matthias Claudius, Jean Paul, Dietrich Bonhoeffer, Bertolt Brecht und der Bibel, deren Textauswahl und Musik die universelle Sehnsucht nach Frieden und Menschlichkeit zum Ausdruck bringt. Und nun knüpft Jörg Widmann abermals an diese zeitlose weltumspannende Botschaft an mit seiner 2024 vollendeten Cantata in tempore belli für Alt, Sprecher, Chor, Orgel und Orchester. 

Wenn seine Musik die Gegenwart auch nicht beeinflussen kann, will er doch ein Zeichen setzen: „Es ist mir angesichts der weltpolitischen Lage unmöglich, ein rein repräsentatives ‚schönes‘ Stück zu schreiben. Die entsetzlichen Kriege unserer Zeit und das unermessliche Leid so vieler Menschen lassen mir gar keine andere Wahl, als den Krieg selbst zu thematisieren und dem Stück den Titel ‚Cantata in tempore belli‘ zu geben“.

Ein Hamburger Auftragswerk von Kent Nagano 

Die Kantate ist ein weiteres Auftragswerk, das seine Entstehung dem Hamburger Generalmusikdirektor Kent Nagano verdankt. Schon 2017 hatte Widmann zur Eröffnung der Elbphilharmonie für Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg sein gewaltiges, 300 Mitwirkende forderndes Oratorium Arche komponiert, nun folgt zu dessen letzten Hamburger Saison diese Kantate in Zeiten des Krieges. Beide von Nagano uraufgeführten Werke markieren also Beginn und Ende seiner Amtszeit in der Hansestadt und stehen für die enge künstlerische Verbundenheit von Dirigent und Komponist.

Kluge Textauswahl und -montage

Text

Mit dem 45-minütigen Werk, das sechs Sätze umfasst, ist ihm ein tief bewegender und eindringlicher Appell für den Frieden gelungen. Hierfür hat Widmann als sein eigener Librettist und Dramatiker die entscheidende Vorarbeit geleistet und eine kluge Auswahl von Texten aus verschiedener Zeit getroffen: Bibeltexte aus dem Alten und Neuen Testament, Gedichtfragmente von Friedrich Hölderlin („Die Schönheit ist den Kindern eigen“ oder „Wo aber Gefahr ist“), Zeilen des Barockdichters Friedrich von Logau und von den Hamburger Autoren Matthias Claudius („‘s Krieg und ich begehre, nicht schuld darein zu sein“) und Wolfgang Borchert. Montiert sind diese Texte zu dramatischen oder lyrischen Szenen – an zentraler Stelle etwa steht, nach einem gewichtigen „Lamento“-Teil, das flammende Friedens-Manifest des frühverstorbenen Kriegsheimkehrers Borchert „Sag Nein!“. Am Ende dieser aufwühlenden Musik gibt es dann einen lichten Ausblick mit Seligpreisungen und einem hymnischen Engelschor „Gloria in excelsis Deo et in terra pax“, wobei der ersehnte „Friede“ nach einem überwältigenden Zwei-Minuten-Crescendo erreicht wird. 

Artikel auswählen
Text

Inspiration aus der Musikgeschichte

Für seine Text-Komposition – nicht weniger ist das Libretto – hat Widmann eine Vertonung gefunden, die weit zurückgreift in die Musikgeschichte, die Anleihen im Barock und in der Romantik macht, bei Bach und Händel oder bei Brahms und Mahler. Und die doch seine unverkennbar eigene Musik-Handschrift trägt: sinnlich, sanglich, schwelgerisch. Auf der anderen Seite packend, aufwühlend, dabei immer wieder besänftigend und zutiefst menschlich. Choräle in Bachscher Manier begegnen rhythmisch-skandierten, vom Cembalo begleiteten Schlagworten in Logaus Gedicht Buchstaben des Krieges, lautmalerisches Rasseln der Kriegswagen und Rosse mit Kastagnetten und Woodblocks stehen markanten Passagen von Harfe oder Orgel gegenüber, die penibel abgestufte Dynamik des gewaltigen Orchesterapparats entlädt sich immer wieder in massiven Fortissimo-Ballungen.

Text

Sprecher, Alt-Solo und Chor

Die menschliche Stimme lässt Widmann in dreierlei Zungen sprechen. Als Sprecher lakonisch von Schauspieler Jens Harzer, den Widmann seit seiner Zeit als Theatermusiker 1997 bei den Münchner Kammerspielen kennt. Als Chor, der dramatisch gestaltend oder einfühlsam kommentierend zum Hauptakteur des Geschehens wird. Hellwach und großartig alle Textnuancen aussingend realisiert wurde dies vom Chor der Liatoshynski Capella aus Kiew, mit dem Widmann persönlich in der kriegsumtobten ukrainischen Hauptstadt geprobt hatte. Und als Alt-Solistin (plastisch, eindringlich und anrührend: Ida Aldrin), die das Publikum in einem großen Spannungsbogen durch das Stück führt, dabei die ergreifende Rolle einer Mutter einnimmt, die um ihr Kind trauert, und bei allem Leid schließlich zur Seligpreisung des Friedfertigen und der Utopie eines Friedens findet. 

Für Widmann ist seine Cantata in tempore belli eine politisch engagierte Musik und Herzensangelegenheit – „Möge diese Kantate Trost spenden und zum Frieden mahnen.“ Kent Nagano hat sein Hamburger Orchester feinsinnig, agil und respektvoll durch alle Höhen und Tiefen dieser gewaltigen, dicht verschachtelten und zugleich bewundernswert klar strukturierten Partitur geleitet. Mozarts Große c-Moll-Messe KV 427 in der zweiten Konzerthälfte (wiederum grandios der Chor der Liatoshynski Capella aus Kiew) rundete diesen eindrücklichen Abend dann zusätzlich zu einer Sternstunde. 

Ort
Musikgenre