An der Wiener Staatsoper liebt man die Oper, die Giuseppe Verdi aus Friedrich Schillers Geschichtsdrama „Don Karlos“ gemacht hat, offensichtlich so, dass man sich gleich zwei Versionen nebeneinander leistet. Was zum Anspruch eines Hauses, das so gut wie jeden Tag spielt, auch zu den Alleinstellungsmerkmalen gehört. Hier kann man also die französische „Don Carlos“-Version mit dem Fontainebleau-Akt der Vorgeschichte mit dem kompakteren, vieraktigen italienischen „Don Carlo“ vergleichen.
Im Grunde hat er nur gegen das Klischee aninszeniert – Kirill Serebrennikov „Don Carlo“ in Wien
Hinzu kommt, dass die Langfassung wirklich eine ist, denn Peter Konwitschny hat in seiner Inszenierung vor 20 Jahren weder die Vorgeschichte, noch die meistens ignorierte Ballettmusik unterschlagen. Natürlich brach damals beim Autodafé auch schon ein Tumult im Publikum los. Aber der wurde in einer dialektischen Pointe ein Bestandteil der Inszenierung. Hier war diese immer heikle und selten geglückte Szene wie ein Staatsbesuch des spanischen Königs von heute mit jeder Menge Mediendrumunddran in die Pause und die Foyers hinein inszeniert. Und so buhte der Teil des Publikums, dem das zu unkonventionell war, gegen diesen Regieeinfall, aber politisch korrekt zugleich gegen das Ereignis, dass hier eingeläutet wurde. Zugleich musste sich der Teil des Publikums, der den Regieeinfall durch seinen Beifall unterstützte, hinterher selbst fragen, wozu man da eigentlich geklatscht hatte. So was gelingt selten. Dieses Mal war der Publikumsprotest einfacher gemeint. Und nachvollziehbar.
Sehr nachvollziehbar ist zunächst die Entscheidung der Wiener Staatsoper einen Regisseur wie Kirill Serebrennikov mit der „Don Carlo“-Neuinszenierung zu beauftragen. Der mittlerweile im Exil lebende Russe, der sich bereits von seinem Moskauer Hausarrest aus, im Westen als Regisseur etabliert hatte, ist schon durch seine Biografie für die wohl beste und ambitionierteste Schilleroper Verdis prädestiniert. Schon, weil hier das Private so politisch ist, wie selten. Weil es um einen brutalen Machterhalt geht, der nicht davor zurückschreckt, öffentlich Menschen zu verbrennen. Und weil sich Schiller und Verdi mit Genie und Pathos auf die Seite der Freiheit stellen.
Außerdem hat Serebrennikov mit seiner noch vom erzwungenen Homeoffice aus für Wien und das digitale Netzpublikum der Coronazeit inszenierten „Parsifal“ bewiesen, wie man den Großopern des 19. Jahrhunderts szenische Relevanz für die Gegenwart zur Seite stellt, um daraus packendes Musiktheater zu machen. Dass das kein Zufallstreffer war, belegte der analog erarbeitete Pariser „Lohengrin“ – eine der politischsten und packendsten Inszenierungen der vorigen Spielzeit! Damit hat Serebrennikov selbst für die Erwartungen gesorgt, denen er jetzt in Wien verblüffenderweise nicht mal ansatzweise gerecht geworden ist.
Im Grunde hat er nur gegen das Klischee aninszeniert, „Don Carlo“ sei ein Kostümschinken, in dem er diese Idee auf die Spitze treibt. Man hätte verstanden, wenn Philipp II. bei ihm einem Diktator von heute geglichen hätte. Oder es gegen die Straflager-Vorliebe der Herrschenden gegen die Untertanen gegangen wäre, die ihre Gedankenfreiheit einfordern. Stattdessen banalisiert er szenisch, was musikalisch hochdramatisch und packend erzählt wird. Ausbeutung in der globalisierten Textilindustrie, Umweltverschmutzung oder brennende Wälder als Symptom der Naturkatastrophen sind schlimm. Aber lassen sich die allseits bekannten Video-Bilder dazu, wirklich gegen die auf den Punkt gebrachte Barbarei eines Autodafe in Stellung bringen? Ist das nicht längst ein zeitlos gültiges Bild dafür, wozu Menschen und von ihnen geschaffene Institutionen fähig sind?
Serebrennikov verlegt das Geschehen – wie immer als sein eigener Ausstatter – in ein steriles „Institut für Kostümgeschichte“. Hier werden die Originalkostüme des spanischen Hofes von Philipp II. nicht nur aufbewahrt und gepflegt, sondern auch am lebenden Objekt auf ihre Brauchbarkeit geprüft. Der König ist hier nur der Verwaltungschef mit Aktentasche, der Großinquisitor hat offenbar das letzte Wort. Stumme Darsteller-Alteregos von Philipp und Carlos, Elisabeth und Eboli werden von Helfern mit prächtig nachgearbeiteten Originalkostümen akribisch ein – und dann wieder entkleidet. Dazu gibt es biografische Notizen zu den historischen Vorbildern des Opernpersonals. Serebrennikov verlängert so die Vorlage gedanklich bzw. optisch (via seiner Idee vom Kostüm als Gefängnis) in die Vergangenheit, also die Zeit der Handlung, und zugleich in die unmittelbare Gegenwart. So simpel wie er das nebeneinander stellt, ergibt es weder eine Zeitreise, noch einen Durchgriff oder eine konsistente Überschreibung. Das Stück wird diesmal sozusagen auf die Folter gespannt bis die eigentliche Geschichte dazwischen zerbröselt wie am Ende das Gewand von Karl V.; ein Schlusspunkt als selbstreferenzielle Pointe.
Was von Liebe und Staatsraison zwischen Elisabetta und Carlo, oder der Selbsttäuschung der Eboli, von Freundschaft zwischen Carlo und Posa, oder von der Utopie von Freiheit und der Sehnsucht nach einem Menschen vom Posa und Philipp verhandelt wird, bleibt in dem Hin- und Her der Ebenen letztlich der musikalischen und darstellerischen Überzeugungskraft der Protagonisten vorbehalten. Und da hatte die Staatsoper die Exzellenz auch zu bieten, die man hier zu Recht erwartet. Das fängt an beim scheidenden Musikchef der Oper Philippe Jordan und dem Orchester der Wiener Staatsoper, die einfühlsam keine intime Passage unterschlugen, nie gegen sondern immer mit den Sängern waren, aber auch das Pathos auflodern ließen, wo es hingehörte. Jordan lieferte obendrein einen szenischen Beitrag als er einer aufkommenden Buh-Attake während der Vorstellung ein weißes Tuch an seinem Taktstock sichtbar entgegenhielt. Ob schlichtendes Friedensgebot oder eigene Kapitulation vor dem, was oben passierte, ließ sich so genau nicht sagen.
Die Protagonisten wurden jedenfalls durchweg und zu Recht von der Gunst des Publikums getragen. Von Joshua Guerrero als Don Carlo, Étienne Dupuis als Posa und einem herausragenden Roberto Tagliavini als Philipp bis zu Eve-Maud Hubeaux als Eboli und natürlich Asmik Grigorian als Elisabetta allen anderen und dem Chor, versteht sich, war vokaler Luxus angesagt. Für sie alle war Beifall so einhellig wie der Buhsturm für die Regie.
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