Zum aktuellen Programm gehörte die Rekonstruktion einer „Titus“-Oper von der nur drei Szenen eines ersten Aktes überliefert sind. Unter dem Label „Amor fou – unkontrollierbare Liebe“ boten Burak Özdemir, das Ensemble Musica Sequenza ein Pasticcio-Programm von sympathisch eigener Art. Eine konzertante Aufführung von Händels „Tolomeo“ war einer der Höhepunkte des laufenden Festspiel-Jahrgangs.

Titus l'empereur Händel-Festspiele 2024. Foto: © Stiftung Händel-Haus
Le roi chante – der König singt – Drei Abende bei den Händel-Festspielen von Halle
Bei Festspielen wie den jährlichen zu Ehren Georg Friedrich Händels gehört es auf die Agenda, Bekanntes zu hinterfragen, Vergessenes wiederzuentdecken, Entlegenes aufzuspüren und auch mal zu experimentieren. Etwa eine Konfrontation der vorhandenen Musik mit neu komponierter, aber auch die Komplettierung von nur in Ansätzen Überliefertem zu riskieren. Im pragmatischen Umgang mit solchen kompositorischen Bruchstücken und deren kreativer Neukombination war Händel auf der Höhe seiner Zeit. Er war ein wahrer Meister des Pasticcio.
„Titus l'empereur“
Zum aktuellen Programm gehörte die Rekonstruktion eine „Titus“-Oper von der nur drei Szenen eines ersten Aktes überliefert sind. Für den jetzt im Carl-Maria-von-Weber-Theater Bernburg präsentierten „Titus“ haben Patrick Boyde und Gerd Amelung die Textauswahl und -dramaturgie besorgt, der Opera-Settecento-Leiter (und Dirigent der Aufführung) Leo Duarte die Musikdramaturgie. Die in diesem Sinne „fertiggestellte“ Oper umfasst eine Ouvertüre und 27 Nummern. Bei den originalen Händel-Arien wurden vor allem solche aufgespürt und verwendet, die Händel selbst beiseitegelegt oder nur vorgesehen, aber nicht in seine Opern eingefügt hatte. Im Zentrum steht ein entschlussschwacher römische Kaiser Titus. Seine Geliebte Berenice (Elenor Bower-Jolley) ist zwar Königin (von Palästina), wird ihm aber vom Senat verweigert, weil sie Ausländerin ist. Sie wird ihrerseits vom König von Cammagene, Antioco (Clara Hendrick), begehrt, der so zum Rivalen von Titus wird. Jedem ist eine Vertrauensperson an die Seite gestellt. Als Pointe nach einem sich hinziehenden Hin und Her zwischen Pflicht und Neigung, das den ganzen Staat lähmt und Potenzial hat, den Zuhörer zu nerven, ergreift das Personal der zweiten Reihe die Initiative, serviert am Ende jedem einen Becher mit Gift und verdeckt das Triumvirat von Zauderern mit Tüchern, als wären es alte Möbelstücke. Passend zu einem Festival erhielten hier Finalisten der Handel Singing Competition London – eine Chance, Bühnenerfahrungen zu sammeln und daran zu wachsen.
„Amor fou – unkontrollierbare Liebe“
Unter dem Label „Amor fou – unkontrollierbare Liebe“ boten Burak Özdemir, das Ensemble Musica Sequenza zusammen Tenor Andres Dahlin und Tänzer László Sandig ein Pasticcio-Programm von sympathisch eigener Art. Der 1983 in Istanbul geborene Özdemir ist ein Multitalent, der daraus gleichsam eine Marke entwickelt hat. In dem Falle ein Wechselspiel der Leidenschaften zwischen einem Fagottisten, einem Tänzer und einem Sänger. Im Wechselspiel von Zögern und Annäherung aufeinanderzu zelebrieren die drei eine schlüssige Affäre der besonderen Art. Für die war dann das „Happy happy we!“ aus Händels „Acis e Galatea“ der passende Abschluss. Da die Konzentration auf die Musik und den Tanz bewusst jeder Assoziation freien Raum lässt, kann man sich das Ganze als eine allegorische, aber genauso auch als eine queere Affäre denken. Gerade Händel hätte damit wohl kaum ein Problem.
Bevor die aktuellen Händelfestspiele durch die Zielgerade gingen, lieferte ein konzertanter „Tolomeo“ mit Counterweltstar Franco Fagioli einen echten musikalischen Höhepunkt. Aufmerksam verfolgt, mit Zwischenapplaus bedacht und ausgiebig bejubelt. Nicht nur, weil hier ein König seines Faches kam, sang und siegte.
„Tolomeo, Re d’Egitto“
Selbst beim Theatervollprofi Händel ist es so, dass manche seiner über 40 Opern eher konzertant gut zur Geltung kommen. Bei der laufenden Nummer 25, seinem „Tolomeo, Re d’Egitto“ von 1728 ahnt man, warum die Rezeptionsgeschichte die Oper nicht wieder ins Repertoire zurückbugsierte.
Die konzertante Aufführung konzentrierte sich naturgemäß voll auf die Schönheit der Musik und die emotionale Leuchtkraft der Stimmen. Da kann man jähe Wendungen einfach lächelnd zur Kenntnis nehmen. Die Musik ist recht arienlastig, die Rezitative knapp. Zwei Duette reichern die Arien-Perlenkette wie zwei Schmuckstücke an. Die Dramatik hält sich in Grenzen. Die Schlusskurve ins lieto fine ist jedoch so steil, dass die Gefahr besteht, rauszufliegen. Hier ist es besonders unwahrscheinlich, wie sich alles in Wohlgefallen auflöst. Wenn man berücksichtigt, dass Händel für „Tolomeo“ die Stars seiner Zeit wie den Kastraten Senesino sowie die Diven Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni antreten ließ, dann wird klar, dass es auch hier, wie damals üblich, vor allem um ein Fest der Stimmen ging.
Wer daran anknüpft, ein Quantum Furor dazugibt, und obendrein mit einem der damaligen Aufführungspraxis (so Clemens Birnbaum) entsprechenden großen Orchesterbesetzung antritt, der gewinnt. Barockspezialist Giovanni Antonini dirigierte in Halle ein Orchester, das sich aus Il Giardino Armonico und dem Kammerorchester Basel zusammensetzt, mit Leidenschaft und so viel Dramatik wie möglich.
Im Zentrum steht mit Franco Fagioli einer der besten Counter der Welt. Mit technischer Perfektion, dem puren Wohlklang seiner Stimme ist er jener Tolomeo, der mit Hingabe fast durchweg mit einem Bein im Grab steht, sich mit Selbstmordgedanken trägt, aber auch das Ziel von Obsessionen seiner „Gastgeber“ in Zypern ist. Die Königs-Schwester Elisa hat mehr als Auge auf den Fremden geworfen. Giuseppine Bridelli wird koloratursicher und überzeugend dramatisch zur rachsüchtigen Kanaille, als sie merkt, dass sie bei Tolomeo nicht landen kann, ersetzt aber in letzter Sekunde dann doch das Gift für ihn durch ein Betäubungsmittel. So landet er doch in den Armen seiner totgeglaubten Geliebten Seleuce, die eindringlich gefühlvoll von Giulia Semenzato gesungen wird. Christophe Dumaux, der zweite, poliert metallische und klar fokussierte Counter, darf eine charakterliche Kehrtwendung des Königsbruders Alessandro vollführen, während Riccardo Novaro der mit Bravour aufbrausende königliche Baritonbösewicht Araspe bleibt.
Hier ist ein wunderbar harmonierendes Vokalisten-Quintett mit der heute (noch) ungewöhnlich großen Orchesterbesetzung beisammen, bei dem man eine szenische Umsetzung ehrlich gesagt kein bisschen vermisst!
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