Der „Orphée“ wurde charakteristisch für Offenbach, seien Opéra bouffe und das Zweite Kaiserreich. 227 Mal wird das Stück en suite gespielt. In einer zweiten Serie wurde es für das Kaiserpaar und den Hof im Théatre des Italiens geben. Das Stück war in Paris immer präsent. Bis 1878 gab es die tausendste Vorstellung. Das Werk wurde ein künstlerischer und ein Kassenerfolg für den Komponisten, der diese Mythentravestie als privater Theaterunternehmer immer wieder auf den Spielplan setzte, wenn die Kassen leer waren.

»Orpheus in der Unterwelt« von Jacques Offenbach an der Musikalischen Komödie Leipzig – Eurydike (Friederike Meinke), Orpheus (Jeffery Krueger). © Kirsten Nijhof
Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ kleinbürgerlich verwässert an der Musikalischen Komödie Leipzig
Die Aufführungs- und Fassungsgeschichte ist nicht weniger komplex als bei den anderen sogenannten „Offenbachiaden“, an die der Komponist selbst immer wieder Hand anlegte, um sie jeweiligen Gegebenheiten (praktischen, aber auch solchen des gewandelten Publikumsgeschmacks) anzupassen. Das Werk wurde ein künstlerischer und ein Kassenerfolg. Offenbach konnte sich sogar in einem der nobelsten Kurorte in der Normandie, in Étretat seine Villa „Orphee“ errichten lassen.
Von Orphée aux Enfers existieren zwei Fassungen, die zu Lebzeiten des Komponisten gedruckt wurden. Die sogenannte „kleine“ von 1858, mit der „schlanken“ Orchesterbesetzung seines Theaters, der Bouffes parisiens, und der „großen“ von 1874, für die Offenbach das Werk zur „opéra féerie“ umarbeitete, zur Zauberoper, mit doppelt so viel Musik, neuen Balletten und einer bedeutend größeren Orchesterbesetzung. Während sich im deutschen Sprachraum die kleine Fassung durchsetzte, die von Offenbachs deutschem Verlag Bote & Bock mit einer von Offenbach autorisierten Übersetzung von Ludwig Kalisch verlegt wurde, spielte man in Frankreich ab der Uraufführung der großen Fassung nur noch diese, die von Heugel gedruckt wurde. Im 20. Jahrhundert kam es nach Ablauf des Urheberschutzes zu zahlreichen Bearbeitungen. Im deutschen Sprachraum setzte es sich allmählich durch, beliebte Nummern aus der 1874er Fassung in die 1858er Fassung zu integrieren.
Es war Offenbachs erstes abendfüllendes Stück und in ihm hatte er sein Erfolgsgeheimnis zum ersten Mal perfekt verwirklicht: Parodie der Antike, durch Transposition in die Gegenwart des Zweiten Kaiserreichs, Karikatur der Kunst auf Kothurnen, des Schwulstes der Klassiker-Bühne, der Sinnwidrigkeiten großer Oper, Ironie, Karikatur, Doppelbödigkeit und Mehrschichtigleit auch seiner Musik voller Witz und Eleganz. René Leobowitz nannte sie „Verkleidete Musik.“ Das Stück ist das Paradebeispiel der „Offenbachiade“, um nicht zu sagen Opéra bouffe, nicht zu verwechseln mit Operette. So nannte Offenbach nur Einakter. Er unterschied sehr genau die unterschiedlichen Gattungsbezeichnungen seiner Werke. Dennoch bezeichnet man das Werk in Leipzig wieder einmal als „Operette“, welche Ignoranz! Wie Frank Harders-Wuthenow erklärt: „Wir haben eine optimierte Mischfassung herausgegeben, die die Theater eins zu eins verwenden können, wo sie nur streichen müssen, was sie nicht brauchen. Mit allen Nummern aus der größer instrumentierten Fassung 1874 auf die kleinere Besetzung von 1858 runterinstrumentiert von Jean-Christophe Keck.“
Man hört in der Leipziger Neuinszenierung, deren musikalische Leitung Michael Nündel oblag, viel ungehörte Musik, auch manches Couplet aus der 1874er Fassung, leider wurden die meisten Ballettmusiken gestrichen, das eingefügte Insektenballett wurde allerdings zu einem musikalischen Höhepunkt des Abends, sowohl orchestral als auch tänzerisch. Endlich geriet das Ballett der Musikalischen Komödie (Choreographie Mirko Mahr), das sich ansonsten diskret zurückhielt, einmal außer Rand und Band und tanzte sich um den Verstand. Michael Nündel hatte allerdings mit dem glänzend disponierten Orchester der Musikalischen Komödie ein mitreißendes Feuerwerk entzündet, dem sich niemand, auch das Publikum nicht, entziehen konnte. Überhaupt war der GMD des Hauses ein kompetenter wie temperamentvoller Anwalt Offenbachs und seiner intelligenten Musik voller Zitate, Anspielungen und Parodien. Nündel peitscht das Orchester – bei aufgerautem, differenziertem Klangbild – nur so durch die Partitur, mit irrwitzigen Tempi bei struktureller Transparenz, Gewitztheit und energetischem Drive.

»Orpheus in der Unterwelt« von Jacques Offenbach an der Musikalischen Komödie Leipzig - Cupido (Da-yung Cho) und das Ballett der Musikalischen Komödie. © Kirsten Nijhof
Nündel ist ein Glücksfall für Offenbach. Eben das kann man von der Regisseurin Maria Viktoria Linke nicht behaupten. Im Gegenteil, sie hat das Stück verkleinert, verspießert und ins Lächerliche gezogen, indem sie es als party- und slapstickhafte Comedy inszenierte, ohne den für das Verständnis von Offenbachs Mythentravestien unerlässlichen mythischen wie historischen Hintergrund mitzuinszenieren beziehungsweise verständlich zu machen. So schwebt das Stück im luftleeren Raum nichtssagenden, geistlosen Unterhaltungstheaters. Bunte Spielzeughäuschen, eine drehbare Himmelsschale für die Olympier, die ziemlich sexbetont und heutig gekleidet sind (Bühne und Kostüme Annika Lau) und auf Rollern anreisen (teilweise in Flugzeugverschalung). Schafe in Gummianzügen. Handys, natürlich und andres zeitgeistiges Zeug. Eine Unterwelt, die einen perspektivisch verengten Himmels- oder Höllen-Prospekt und eine hohle, große Muschel, als Rückzugsort für Eurydike sowie eine Freitreppe zeigt, eine übergroße Krebsschere, die vom Bühnenhimmel herabhängt, ebenso eine riesige Vogelkrale.

»Orpheus in der Unterwelt« von Jacques Offenbach an der Musikalischen Komödie Leipzig – Die Götter: Jupiter (Milko Milev, Mitte), Cupido (Da-yung Cho, unten rechts), Diana (Nora Lentner), Venus (Olivia Delauré, ganz rechts), Mars (Michael Raschle, oben mit Maske), Merkur (Sandro Hähnel, links unten), Bacchus (Kyle Fearon-Wilson, links neben Jupiter). © Kirsten Nijhof
Es gibt Anspielungen auf Sprechblasen heutiger Politiker; ansonsten Kalauer, Blödeleien, Slapsticks. Die Rolle des Hans Styx (Andreas Rainer) wurde gründlich vertan, er schlurfte wie ein zerzauster alter Trottel über die Bühne, schon während der Ouvertüre hantierte er mit dem Staubwedel am Vorhang herum. Die Regie hat einiges verschenkt, was die Musik doch immerhin nahelegte. Vor allem Jupiters grandiose „Fliegen“-Nummer.
Was die nassforsch und als Sängerin unbegabte Öffentliche Meinung (Stephanie Theiß) zu Beginn ihrer ziemlich schnodderigen, ans Peinliche grenzenden Auftritte im Zuschauerraum postulierte: „Hier kann nicht jeder sein bürgerliches Süppchen kochen“ wurde in dieser Inszenierung allerdings Lügen gestraft. Offenbachs „Orpheus“ wurde bürgerlich, um nicht zu sagen kleinbürgerlich verwässert, sodass einem das Lachen verging. Die anspruchslose Masse der Zuschauer amüsiert sich allerdings über jeden noch so faden Witz wie Bolle, je platter der Witz, desto lauter ihr Lachen. Das zeigte sich auch in Leipzigs Operettenhaus wieder einmal.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde dann der Höllengalopp „Galop infernal“ als Cancan getanzt, was für eine Torheit! Der Höllengalopp ist eine der charakteristischsten, aber auch missbrauchtesten Musiken Offenbachs, „sie wird noch heute dem Publikum als typisch französischer Cancan vorgegaukelt“. (Peter Hawig). Dabei ist Offenbachs Tanz (er hat niemals Cancans komponiert) weit entfernt von dem Moulin-Rouge-Gekreische jener Touristen bespassenden, strumpfbandbestückten und Röcke werfenden Damen, wie er in den 1890er Jahren in gewissen Etablissements Mode war. Bei Offenbach (Gustav Doré hatte es in einem Gemälde bzw. Stich festgehalten) wird zu dem Höllengalopp ein tosendes Bacchanal in phantastischen antiken Kostümen getanzt, anstelle des höfischen Menuetts! Und eben kein Cancan.
Sängerisch zeigte die Musikalische Komödie, dass sie über ein großes und leistungsfähiges Ensemble verfügt. Die vielen Partien wurden glaubwürdig besetzt, die Venus (Olivia Delauré) prunkte mit Sexappeal, Glimmer und Stimme, ebenso die Diana von Nora Lentner, auch der Merkur von Sandro Hänel begeisterte mit seinem furiosen Rollerauftritt. Der Orpheus von Jeffery Krueger in babyblauem Anzug zeigte stimmlich solides Niveau. Die Eurydike der fulminanten Koloratursopranistin Friederike Meinke war allerdings eine zwiespältige Sensation. Stimmlich einer Erna Sack ebenbürtig, trällerte sie in höchsten Tönen und führte atemberaubende Koloraturen und Spitzentöne in schwindelerregenden Höhen vor. Ihr recht plump erotisches Spiel dagegen grenzte ans Peinliche, was der ganzen Aufführung zum Nachteil gereichte.
So erwies sich die neuerliche Verhunzung der „Opéra bouffe“ zur Operette wieder einmal als ein ärgerliches Missverständnis.
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