Das Seufzen, verkündet Johannes Kreidler, sei die „einzige menschliche Tätigkeit, bei der man sich entspannt, indem man sich beschwert.“ Grund zum Seufzen habe es in den letzten Monaten mehr als genug gegeben. Als Beweis verliest Kreidler die Namen von 42 AfD-Bundestagsabgeordneten, die Giordano Bruno do Nascimento, Kreidlers alter ego an diesem Sonntagmittag, prompt stimmlich in die Hölle schickt. Denn do Nascimento, Komponist und Stimm-Akrobat, beherrscht das aus dem Death Metal stammende growling. (Wer zum Beispiel das Wort „Gauland“ mit sehr, sehr tiefer Stimme ausspricht, kommt dem growling schon ziemlich nahe.)

Scope und Musikfabrik. Foto: Claus Langer
Wittens Unterweisung zum Seufzen – Der WDR präsentiert die Wittener Tage für neue Kammermusik 2025
Die vom WDR gemeinsam mit dem Kultur Forum Witten veranstalteten Wittener Tage für neue Kammermusik (unterstützt vom Kulturministerium NRW und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe) präsentieren auch im 57. Jahr ihres Bestehens Musik für Streichquartett oder zwei Klaviere. Kammermusik im engeren Sinne. Aber da der engere Sinn auch ein engeres, genauer: immer kleineres Publikum anzieht und weil auch ein Festivalmacher wie WDR-Redakteur Patrick Hahn mit einem kunterbunten Musikgeschmack aufgewachsen ist, steht das Wittener Programm 2025 auf vielen Beinen. Die letzte ästhetische Übereinkunft besteht in der Proklamation ihrer Abschaffung. Sollen doch die Zuhörerinnen und Zuhörer das Programm sortieren und bewerten. Keine Konzertpausen, kein Konzert über 70 Minuten, ständig unterwegs zur neuen Location. So fröhlich, anregend und unterhaltsam sind Festivals für zeitgenössische Musik selten.
Seufz!
Der Komponist und Performancekünstler Johannes Kreidler hat im Märkischen Museum Seufzermaschinen aufgebaut. Aus einer schwarzen Klagemauer aus dem 3D-Drucker sind Seufzer-Schallwellen herausgeschnitten. Kreidler führt durch die Ausstellung, verteilt Lotusflöten zum Seufzen, setzt mit dem Laubbläser seinen Growler stilecht in Szene. Der höhere Blödsinn ist sorgfältigst vorbereitet und aufwendig präsentiert. Und lässt uns fragen: Wann, warum und wie seufzen wir? Was macht uns einsam, was macht uns stark?

Guite To Reality der Podcast mit Sarah Sun. Foto: Claus Langer
Ein neues Format stellen Sarah Maria Sun und das Kuss Quartett vor: Die fünf entfachen auf der Bühne der Werk˚ stadt weitgehend schmuckloses Material für einen Podcast, den Sara Glojnarić dem Publikum in die Kopfhörer mixt: „Songs for the end of the world“ hinterfragt den Mythos des letzten Liedes, den die Band beim Untergang auf der Titanic spielte, der Überlieferung zufolge die Hymne „Nearer my god to thee“. Die Sopranistin moderiert kenntnisreich, charmant, verkneift sich auch bissige Nebenbemerkungen nicht, surft mühelos auf dem Wellenkamm zwischen Historie und Hörergegenwart. Glojnarić setzt (wie schon vor ihr Gavin Bryars beim gleichen Thema) die Musik förmlich unter Wasser. Das Live-Erlebnis erschiene überflüssig, animierte nicht im letzten Drittel Sun das Publikum zum Nachdenken über das „letzte Stück“, das man im Ableben hören möchte. Bach steht ganz oben. „Krass, dass ihr euch alle Klassik wünscht“, sagt Oliver Wille vom Kuss Quartett. Er möchte Udo Lindenberg.
Ups!
Zum Festival-Motto „Upcycling“ – ein Recycling, das zu einer Aufwertung führt – passt die Realisation von Karlheinz Stockhausens „Plus-Minus“ durch den Komponisten Ming Tsao. Das weitgehend offene Werk findet in Ming einen Anwalt, der sich klanglich an Stockhausens „Mantra“ orientiert. Das Klavierduo GrauSchumacher entfesselt in der Rudolf-Steiner-Schule einen einstündigen Platzregen über seinen Zuhörern; Raum zum Unterstellen hat Ming Tsao nicht vorgesehen. In „Plus or Minus“ schlummern Transducer (elektronische Wandler) in den Klavieren, die die Saiten, ja das Instrument selbst zum Schwingen und Singen bringen. Tonhöhen verirren sich im vierteltönigen Nebel oder rutschen seufzend in die Tiefe. GrauSchumacher hämmern das Material in die Tasten, streicheln sie, initiieren Tonkaskaden, semmeln mit den Ellbogen, horchen dem Klang hinterher, spielen Stockhausen/Ming, als handelte es sich um Chopin.

PlusorMinus mit GrauSchumacher. Foto: Claus Langer
Zum zweiten Mal vergibt der WDR in Witten den Liminal Music Prize für Projekte, die Grenzen, Kulturen und Traditionen überschreiten. Preisträger 2025 sind der Komponist George Lewis und das Trickster Orchestra. Dieses vereint Instrumente, die von sich aus nicht zusammenfinden wollen, aber durch musikalische Klugheit und Offenheit ihrer Spielerinnen und Spieler zueinanderkommen können: die japanische Koto und die klassische Geige, die chinesische Mundorgel Sheng und die ungarische Zymbal. Im Trickster Orchestra (natürlich aus Berlin) lebt man die postmigrantische Utopie in der persönlichen Begegnung, im Dialog zwischen Komposition und Improvisation, angefeuert von Cymin Samawatie, die Trickster vor zwölf Jahren gemeinsam mit dem Schlagzeuger Ketan Bhatti gegründet hat. Immer wieder modelliert das Orchester fein ausbalancierte Klänge, die mehr sind als die Summe ihrer Teile, neue irisierende Klänge, in denen Heimat widerhallt und die doch in ihrer fremden Schönheit heimatlos sind. Noch sind solche Momente zu rar gesät. George Lewis kredenzt dem Sheng-Virtuosen Wu Wei ein atemberaubend wildes Konzertstück, zum Schluss übernimmt Komponist Ondřej Adámek mit dem humorvollen „The Power of Flowers“, das zur Freude des jungen Publikums die Energie des Orchestra listig kanalisiert.

Das Trickster Orchestra. Foto: Claus Langer
Das Festivalprogramm umkreist die Komponistin Cassandra Miller. Im Gesprächskonzert versucht Theresa Szorek der kanadischen Komponistin auf den Zahn zu fühlen, aber so persönlich ihre Musik wirkt, so bedeckt hält sich Miller. Ihre Klangsprache wirft Geschichte und Tradition ab, wurzelt lieber in Obertonreihen oder kleinen Dur-Wendungen. Entwicklung und Variation des Materials bleiben aus, Steigerung ergibt sich aus Duplizierung und Dynamisierung. In ihrer Musik für das Quatuor Bozzini verharrt sie aber am liebsten im mezzoforte, ihre Sängerinnen, darunter die fabelhafte Juliet Frazer und Silvia Tarozzi, die auch ein Nachtkonzert bestreitet, singen gerne in sich hinein, manchmal auch die Musiker. In „The Years“ – beauftragt von der Stadt Witten und dem Barbican Center – stehen sich Vokalsextett und Streichtrio (Ilya Gringolts, Lawrence Power, Nicolas Alstaedt) gegenüber, beide Gruppen vertieft in das Auf- und Abklettern von Obertonskalen, aus denen sie, oben angelangt, jubilierend ausbrechen. Beim Abschlusskonzert mit dem WDR Sinfonieorchester verteilt Miller Paare – ein Streicher, ein Bläser – auf der Bühne und im Saal. Miller selbst sitzt mit Silivia Tarozzi neben der Dirigentin. Auf dem Höhepunkt schreit sich die Komponistin die Seele aus dem Leib, Dirigentin Elena Schwarz muss auf ihre Ohren Acht geben. Hinter der verstörenden Privatheit von Millers Musik steckt die Sehnsucht nach Geborgenheit. Diese wird nicht mit dicker Hose herbeizitiert, sondern schamanisch beschworen. Tatsächlich eine Musik, die uns zu uns selbst zurückführt, uns dort aber auch wieder allein lässt. Handfester wirkt das kraftvolle Vokabular von Malika Kishino, die im Auftrag der Stadt Witten die vier Elemente auf ihr akustisches Material hin abklopft. Nicolaus Altstaedt und das WDR Sinfonieorchester unter Elena Schwarz spielen das mit Freude an der kraftvollen Farbigkeit. Lisa Illean teilt in „An acre ringing, still“ die Streicher und platziert ein zweites Ensemble im Hintergrund; dadurch schärft sie die räumliche Tiefe der Klänge. Ein stilles und edles Stück, kein Ausrufezeichen, eher ein Gedankenstrich, der lange nachklingt.
Seufz!
Witten 2025 ist auch der offiziell letzte Festivaljahrgang von Patrick Hahn. Wer die Vorläufe im Musikbetrieb kennt, weiß, dass auch im nächsten Jahr noch viel Hahn im Programm enthalten sein wird. Man darf ihm eine glückliche Hand für die nächste Station in Paris wünschen und gleichzeitig hoffen, dass das Festival seinen weltoffenen, qualitätsbewussten, unakademischen, insgesamt mutigen Kurs beibehält. Ein Kurs, der zu einem hinreißenden Eröffnungskonzert geführt hat.

Scope und Musikfabrik. Foto: Claus Langer
Das Ensemble Scope – Lucia Kilger, Clemens K. Thomas und Friederike Scheunchen, die auch den Abend dirigiert – hat für das Ensemble Musikfabrik ein Programm von Uraufführungen kuratiert, das die Tänzerin Riha Rehfuß, die Videos von Viktor Sabelfeld und das Licht von Alexander Joseph in eine bemerkenswerte Gesamtkomposition verwandeln. Wie eine wildgewordene Spieluhr eröffnet Alex Paxton mit „No salt" den Abend. In Lucia Kilgers „Shavryon“ wird die Performerin sichtbar und enthüllt doch kaum den menschlichen Körper. Clemens K. Thomas widmet sich in „Take me to Funkytown“ dem Phänomen der Gore-Videos, die ihrerseits von gewalttätigen Videos berichten. Ob es dafür eine dreifache Warnung gebraucht hätte? Die musikalischen Schreie oder das Bild der zurückweichenden Tänzerin (wie Klees „Angelus Novus“) bedrücken jedenfalls mehr als das visuelle Material. Während Thomas auf einen selbst gebastelten Discosong aus dem Kindercomputer abzielt, haut Jessie Marino den Zuhörern Musik um die Ohren, als hätte er zu viel Drone-Metal von Sun o))) gehört. Und Nicolas Berge orientiert sich bei „Terminally Online Aliens“ an der postmodernen Schnipselästhetik eines John Zorn. Alle zehn Sekunden passiert etwas Neues, Flötenkitsch folgt (ja, da ist es wieder:) Growling. Mehrfach erklingt der alte Bach-Schlager „Schafe können sicher weiden“. Aber nicht an diesem Abend, nicht in Witten und nicht in der Gregorian-House-Party, in die Berges Komposition mündet. Was, das Konzert ist schon zu Ende? Seufz. (Im Mediaplayer des WDR kann man es nachhören.)
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