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Frank Mund: Lebenskrisen als Raum der Freiheit. Johann Sebastian Bach in seinen Briefen. (Reihe Musiksoziologie. Band 2) Bärenreiter Kassel, 1997. 182 S., 58 Mark.Die Bach-Forschung steckt ineiner Krise: Zwar sind die biographischen Stationen unddas umfangreiche Schaffen des Komponisten bis ins Detail erforscht, doch bleibt der eigentliche Mensch Johann Sebastian Bach, seine Persönlichkeit, sein Denken und sein Handeln, weitgehend unbekannt. Die mangelnde Kenntnis von Bachs Denken begrenzt indes das Verständnis seiner Musik, die schließlich aus diesen Denkstrukturen entstanden ist. Mit seinem Buch „Lebenskrisen als Raum der Freiheit“ schlägt Frank Mund einen neuen Weg ein, um aus den spärlich überlieferten Dokumenten zu Bachs Leben Einblicke in dessen Persönlichkeit zu gewinnen. Er erweitert den biographischen Forschungsansatz durch sprach- und sozialwissenschaftliche Verfahren der Text- und Inhaltsanalyse, die die untersuchten Dokumente vergleichbar machen und Rückschlüsse auf die Person Bachs zulassen. Ausgangspunkt ist dabei der sogenannte Präfektenstreit, eine Auseinandersetzung zwischen Bach und dem Rektor Johann August Ernesti, der 1736 eigenmächtig und gegen Bachs Willen einen Präfekten über die Chorknaben der Thomasschule einsetzte.
Innerhalb der folgenden 15 Monate verfaßte Bach insgesamt sieben Beschwerdeschreiben, zunächst an den Rat der Stadt Leipzig, dann an das Königliche Konsistorium, schließlich an den Kurfürsten Friedrich August II. höchstpersönlich. Munds Leitfrage bei der Untersuchung dieser Dokumente ist, ob der Präfektenstreit für Bach ein „kritisches Lebensereignis“ war, das heißt ein zentraler Konflikt, der Bachs Identität und seine Beziehung zum Umfeld in Frage stellte und sich als Anstoß zu Veränderung und schöpferischer Entwicklung auswirkte. Der erste Schritt ist die Textanalyse: Die sprachwissenschaftliche Technik der deskriptiven Textanalyse gibt Auskunft über die spezifische Schreibart eines Verfassers und über seine Mitteilungsstrategien, wobei eine anschauliche schematische Darstellung die Komplexität weitverzweigter Argumentationen durchsichtig macht. Die sozialwissenschaftliche Technik der inferentiellen Inhaltsanalyse hingegen zeigt auf, wie sich aus einem Text die affektive Verfassung, die kognitive Prägnanz (sprachliche Reflektion prägnanten Denkens) und die Selbstdarstellung des Autors herauslesen lassen. In beispielhafter Präzision erläutert Mund diese Verfahren und ihren Nutzen für einen Einblick in Bachs Denken und Empfinden während des Präfektenstreits. Daß dieser Streit für Bach in der Tat ein „kritisches Lebensereignis“ war, zeigt der Befund der Untersuchungen: Die sieben Briefe dokumentieren eine wachsende Schärfe des Tonfalls und eine ansteigende Komplexität in der Argumentation, eine durchweg hohe emotionale Anspannung und ein schwindendes Durchsetzungsvermögen. Der zweite Schritt von Munds Untersuchung führt hin zur Bedeutung des Konflikts für Bachs persönliche Integrität. Eine Rekonstruktion von Bachs „Selbstkonzept“ (lebensgeschichtlich beständigen Selbststrukturen) macht Bachs Verhalten im Präfektenstreit nachvollziehbar:
Die soziale Struktur seiner Geburtsstadt Eisenach beruhte auf einem althergebrachten Regelsystem, sein familiäres Lebensumfeld war geprägt von der väterlichen Herrschaft über den gesamten Familienverband, und seine Ausbildung verlief in zunftähnlich gefestigten Bahnen. So beruft sich Bach auch im Präfektenstreit auf die klare rollenbezogene und funktionale Gliederung menschlichen Zusammenlebens: Er beharrt – entgegen den neuen Verordnungen des Stadtrats – auf Gewohnheitsrecht und Korporationsbewußtsein. Sein Rückgriff auf ein – um 1736 nicht mehr zeitgemäßes – sozial-kommunales Regelsystem spiegelt sich im veralteten Sprachgebrauch in seinen Beschwerdebriefen. So folgert Mund, daß der Präfektenstreit in der Tat ein „kritisches Lebensereignis“ für Bach war, das sich in der Spannung zwischen Bachs Identitätsbewußtsein und dem sozialen Umfeld äußerte. Bachs Bewältigung dieses Konflikts kommt nach der ausführlichen Darstellung allerdings etwas kurz: Nur ansatzweise belegt Mund die „schöpferische Entwicklung zu mehr Autonomie“, die er als Prozeß einer Neuorientierung nach diesem Konflikt ansieht.
Gerade hier erscheint die Argumentation widersprüchlich, denn Bach greift ja gerade auf das Altbewährte zurück. Munds Begründung, „neu“ könne für Bach durchaus heißen, „Altbewährtes zum zweiten Male zu tun und vielleicht bis zur Vollkommenheit“ (S. 151), führt zu einer Relativierung des Neuheits-Begriffs. Der interdisziplinäre Ansatz, der hohe Grad an Kompetenz, die präzise Darstellung und die hilfreichen Zwischenbilanzen und Zusammenfassungen des Autors zeigen auf faszinierende Weise, wie Verfahren aus anderen Wissenschaften aus musikwissenschaftlichen Sackgassen herausführen und zu einem vielschichtigen Verständnis der Persönlichkeit eines Komponisten – und letzten Endes seiner Musik – beitragen können. Problematisch ist hierbei jedoch, daß der Leser sich vollkommen auf die Aussagen des Autors verlassen muß: Spätestens bei der Berechnung des „Kompakt-Scores“ in der Gottschalk-Gleser-Analyse des affektiven Verhaltens ist dem Laien ein Nachvollziehen nicht mehr möglich. Und auch der verlockenden „Objektivität“ der Befunde sind Grenzen gesetzt: teils in den Überschneidungen zwischen Analysekategorien, teils durch die Subjektivität in der Auswahl und Bewertung sprachlicher Indikatoren. Dennoch zeigt Mund einen überzeugenden Ansatz zu neuen Wegen in der Musikforschung, der zur Öffnung und Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen einlädt.