Wo ein Schloss steht und höfisches Leben stattfand, hat die Alte Musik ihren Platz. Und so ist die Musikakademie in Rheinsberg – dem Alten Fritz sei Dank – prädestiniert für die Beschäftigung mit historischer Aufführungspraxis, mit Gamben, Lauten, Hammerflügeln und mit Barockopern.
Leicht vergisst man dabei, dass Rheinsberg damit schon immer ein Ort des Neuen war: Denn das musikalische Leben am Musenhof von Kronprinz Friedrich wie auch seinem Bruder Heinrich war geprägt von der Suche nach neuen künstlerischen und zukunftsweisenden Ausdrucksformen, vom Experimentieren mit Klängen und vom Austausch der Musiker untereinander, die damals oft zugleich Instrumentalisten wie Komponisten waren. Uraufführungen waren an der Tagesordnung. Die Musik, die wir heute als „barock“ bezeichnen, war für Friedrich damals der letzte Schrei. Ganz wie in der bildenden Kunst: „All art has been contemporary“.
Aus dieser Perspektive gibt es jede Menge Berührungspunkte zwischen den musikalischen Schaffensprozessen von damals und heute: Immer geht es um den kreativen Umgang mit musikalischem Material, um die Erweiterung des Gestaltungsraums und das Erforschen neuer Klangwelten – alles Dinge, die wir heute insbesondere der Neuen Musik zuschreiben.
Alle Alte Musik ist die Neue Musik von gestern. Nicht wenige der wichtigen Werke unseres Konzert- wie Opernrepertoires waren zum Zeitpunkt ihrer Entstehung verstörend neu – und wurden erst mit der Zeit verstanden und vertraut. Und so wird auch unsere zeitgenössische Musik irgendwann nicht mehr „neu“ sein. Kann man nicht also beide zusammendenken?
Hier knüpft die Musikakademie Rheinsberg an. Sie bietet Raum und Möglichkeiten der Begegnung und Auseinandersetzung sowohl mit vertrauten, historischen als auch mit experimentellen und fremden Klängen.
Schon Anfang der 1990er-Jahre etablierte Prof. Dr. Ulrike Liedtke, die Begründerin der Musikakademie Rheinsberg, in Workshops und Projekten die Neue Musik als einen festen Bestandteil der Akademiearbeit. Uraufführungen im Rahmen solcher Projekte wurden zu regelmäßigen Highlights in Rheinsberg: „Tintenfrisch mussten die Noten für den jungen Fritz sein, computer-druckfrisch sind sie heute“, schreibt sie in einer Dokumentation. Die jährlich stattfindende Rheinsberger Pfingstwerkstatt Neue Musik vermittelte sowohl den Musiker*innen und Komponist*innen als auch dem interessierten Publikum spannende musikalische Anregungen.
Heute werden in jährlichen Meisterkursen für Instrumentalist*innen, unter anderem von Prof. Marianne Boettcher (Violine) oder Carin Levine (Querflöte), neben Werken des klassischen Repertoires bewusst Werke zeitgenössischer Komponist*innen behandelt. Im Rahmen des Projekts „Grenzen aufheben“ (2017–2019) lernten Schülerinnen und Schüler, ihre Scheu vor fremden Klängen und ungewohnten Harmonien abzubauen, indem sie unter Anleitung eigene Musiktheaterwerke komponierten und inszenierten.
Mit dem Berlin-Rheinsberger-Kompositionspreis förderte die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa bis 2019 in Zusammenarbeit mit der Musikakademie junge Berliner Komponistinnen, die als „Composer in residence“ Arbeitsaufenthalte und Porträtkonzerte in Rheinsberg hatten. Auch im Rahmen der Kammeroper Schloss Rheinsberg finden immer wieder zeitgenössische Projekte ihren Platz: So präsentierte 2019 das Ensemble ascolta ein zwischen Konzert und Szene, zwischen Theater und Instrumentaloper angesiedeltes Musiktheaterprojekt nach Kafka „Vor dem Gesetz“ (Foto: Uwe Hauth).
Auch in diesem Jahr gab und gibt es trotz der Einschränkungen der Akademiearbeit durch Corona erneut Gelegenheiten, sich mit Neuer Musik zu beschäftigen: Musikpädagog*innen aller Fachrichtungen waren eingeladen, im Rahmen der Fortbildung „Neue Musik in Schule und Musikschule“ neue Konzepte und Methoden der Vermittlung von Neuer Musik kennenzulernen, um Schülerinnen und Schüler mit Freude für die Welt der neuen Klänge zu gewinnen. Und im Oktober bieten Mitglieder des auf zeitgenössische Musik spezialisierten Kairos Quartetts in einem eintägigen Workshop mit dem ungewöhnlichen Titel „Wie klingen weiße Kobolde?“ allen Interessierten die Möglichkeit, zu erforschen, wie aus ihren Ideen Klänge werden und welche klanglichen Möglichkeiten in zeitgenössischer Musik stecken. Aktiv können sie selbst an der Gestaltung eines musikalischen Werks mitwirken und ihre eigenen Vorstellungen einbringen.
Auch für die kommenden Jahre sind bereits Projekte in Vorbereitung: So ist rund um die Rheinsberger Musiktage zu Pfingsten ein Netzwerktreffen mit Profis der Neuen Musik aus ganz Europa geplant. Und es gibt die Idee, eine eigene „Rheinsberger Hofkapelle“ für zeitgenössische Musik ins Leben zu rufen.
Das ist noch Zukunftsmusik, doch was auch immer auf der Bühne und in den Probensälen Gestalt annimmt: Rheinsberg ist ein Ort, an dem nicht nur Musikgeschichte erforscht, sondern auch neu geschrieben wird.