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Wolfram Korr. Foto: Brandenburgischen Sommerkonzerte
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„Die Klassik-Hörer sterben aus“ – oder ziehen sich nur etwas anderes an?

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Vor Ausbruch der Pandemie entwickelte der Geiger und Musikmanager Wolfram Korr Unterhaltungsprogramme für Kreuzfahrten. Seine Marketing-Kenntnisse bringt er nun als Geschäftsführer der Brandenburgischen Sommerkonzerte ein. Bei Veranstaltungen in Kirchen, Herrenhäusern oder Industriedenkmälern möchte Korr das Publikum nicht belehren und bilden, sondern einfach nur glücklich machen. Ob das gelingt? Für die nmz sprach Antje Rößler mit Wolfram Korr.

nmz: Herr Korr, seit Dezember sind Sie Geschäftsführer der Brandenburgischen Sommerkonzerte. Wie locken Sie das Publikum an?

Wolfram Korr: Wir gestalten Konzerteinführungen mit bekannten Musikredakteuren. Wir sprechen jüngere Gäste an, indem wir bei den Beiprogrammen mit Musikschulen kooperieren. Wir kommunizieren mit unseren Besuchern auch außerhalb der Konzerte durch E-Mails und Broschüren. Und wir bieten neue Formate an, um die Hemmschwelle zu senken, zum Konzert zu kommen.

Worin besteht die Hemmschwelle?

Viele Menschen verbinden mit Klassik: Ich muss mich „aufbretzeln“; ich muss mich steif benehmen; es ist eigentlich unbequem – obwohl grundsätzlich Interesse besteht. Menschen, die mit klassischer Musik aufgewachsen sind, unterschätzen gern, wie hoch die Hemmschwelle bei vielen Menschen, ist.

Haben Sie das persönlich erlebt?

In meinem Bekanntenkreis gibt es hochintellektuelle Leute, die sich trotzdem schwertun, in die Philharmonie zu gehen. Sie machen sich dafür wahnsinnig fein und wundern sich, dass ich einen Pullover trage.

Vor ein paar Jahren versuchte ich, zusammen mit dem Veranstalter Hans Reimann Crossover-Neujahrskonzerte im Konzerthaus zu organisieren, mit wirklich tollen Künstlern. Aber die Leute haben gezögert, obwohl das Konzerthaus so ein phantastisches Gebäude ist.

Wie gehen Sie bei den Brandenburgischen Sommerkonzerten vor?

Da haben wir es einfacher, weil die Veranstaltungen ohnehin außerhalb der traditionsbeladenen Konzerthäuser stattfinden. Wir bringen Musik in die Landschaft, in Kirchen oder Stätten der Industriekultur. Wir gehen auch auf das Publikum in den Dörfern und kleinen Städten zu. Für Kultur nicht extra nach Berlin fahren müssen, ist für viele Brandenburger ein Wert. Die Berliner wiederum erleben gern die reiche Kulturlandschaft Brandenburgs.

Inwiefern haben sich die Voraussetzungen für den Zugang zur klassischen Musik in den letzten Jahrzehnten verändert?

Die Statistiken sagen, dass die Theater viel mehr Vermittlungsarbeit machen. Aber ich befürchte, dass die Klassik-Hörer langsam aussterben. Immer weniger Kinder besuchen eine Musikschule oder spielen ein Instrument. Noch dazu verzettelt man sich bei der Förderung in einem Richtungsstreit. Die einen befürworten die Breitenförderung, die anderen die Elitenförderung.

Man braucht doch beides.

Genau. Aber die Vorhaben, die in die Breite gehen, sind so gestrickt, dass sie sich an eine riesige Anzahl von Kindern wenden und man keine Möglichkeit mehr hat, die besten Talente zu fördern. Das geht oft mit arg banalen Entscheidungen einher: Bemisst man die finanziellen Zuwendungen für eine Musikschule an der Anzahl der Schüler oder an den Personalkosten? Wenn möglichst viele Schüler aufgenommen werden, sinkt zwangsläufig die Qualität des Unterrichts – solange keine neuen Lehrer eingestellt werden können. Wir brauchen auch die entsprechende Ausstattung und Anerkennung der Musikschulen.

Wo sehen Sie die Zukunft der klassischen Musik?

Das frage ich mich oft. Es werden zwar immer mehr Konzerte und Musiktheater-Vorstellungen angeboten, aber die Besucherzahlen gehen zurück. Es fehlt die große Perspektive. Wir müssen vermeiden, dass die Klassik wie die Peking-Oper endet: als museale, hochartifizielle Kunstform mit einer Handvoll Zuschauer.

Sie haben jahrelang die Unterhaltungsprogramme für die Kreuzfahrten von TUI Cruises entwickelt. Sind durch diese Tätigkeit zu solchen Befürchtungen gekommen?

Auf den Schiffen kam mir die harte Erkenntnis, dass Klassik keine Leitkultur mehr ist. Dabei haben wir auf Kreuzfahrten ein überdurchschnittlich gebildetes, solventes und grundsätzlich kulturaffines Publikum. Wir bieten dort absolut hochwertige Klassik-Aufführungen. Aber bei Musical oder Pop finden sich viel mehr Gäste ein. Wir müssen uns dieser Realität stellen. Die Hochkultur spricht ja überhaupt nur acht Prozent der Bevölkerung an!

Was schlagen Sie vor?

Ich habe keine Patentrezepte. Aber wenn man sein Publikum konsequent befragt, was bislang kaum ein Klassik-Veranstalter macht, könnte man sich von den Wünschen des Publikums leiten lassen und so auch neue Gäste ansprechen.

Und wenn sich das Publikum nur noch Beethoven-Sinfonien wünscht?

Es gibt natürlich einen Teil des Publikums, der massiv auf das klassisch-romantische Repertoire drängt: Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Brahms. Ich kenne aber keinen Veranstalter, der dieses Bedürfnis auf musikalisch exzellentem Niveau befriedigt. Und was wäre daran verwerflich? Wenn die Leute in ein Stones-Konzert gehen, bekommen sie doch auch, was sie wollen. Da tritt dann nicht am selben Abend noch Rammstein auf. Ich will das Publikum nicht bevormunden, das sich übrigens meiner Erfahrung nach gar nicht so eindimensional orientiert.

Ist Programmvielfalt ein Wert an sich?

Es gibt ein Problem beim Aufeinandertreffen von erfahrenen und eher unerfahrenen Klassikhörern: die unterschiedliche Einstellung gegenüber „Hits“. Auf den Kreuzfahrtschiffen wollen die Gäste mindestens einmal am Tag die „Kleine Nachtmusik“ hören. Die Musiker sind davon total genervt. Wir reden ihnen aber gut zu, das zu machen, weil die „Kleine Nachtmusik“ ein wunderbares Stück Musik ist. Der Mix macht’s!

Die Veranstalter und Intendanten sollten sich also nach dem Geschmack des Publikums richten?

Das trauen sie sich gar nicht. Ich habe schon von mehreren Intendanten gehört: Dann würden wir nur noch Schlager spielen. Aber ich finde, wir sollten uns um die so genannte Unterhaltungsmusik viel stärker bemühen; dann hätte sie auch bessere Qualität. Vielleicht ähnlich wie in den Zwanzigern, als tolle, exzellent ausgebildete Musiker wie Friedrich Hollaender oder Erich Wolfgang Korngold sich mit großer Freude der leichten Muse widmeten.

Wie findet man den Publikumsgeschmack überhaupt raus?

Auf den Kreuzfahrtschiffen werden die Programme total evaluationsbasiert gestaltet. Es ist ein Manko, dass das in der Klassik nicht geschieht. Die Planung und Organisation von klassischer Musik geschieht zu hundert Prozent durch Experten. Das ist eine Blase. Manch ein Intendant überhebt sich, weil er denkt, man könne den Geschmack des Publikums prägen. Ich finde das gewaltsam und möchte lieber über Gespräche und eine Auswertung mit meinem Publikum in Kontakt kommen.

Wie läuft Ihre Auswertung ab?

Bei den Brandenburgischen Sommerkonzerten bekommt jeder nach dem Konzert ein Kärtchen zum Ausfüllen oder eine digitale Anfrage. Wir arbeiten mit dem Net Promoter Score. Das ist eine international verbreitete Methode der Zufriedenheitsmessung, die auf der Frage basiert: Wie wahrscheinlich würden Sie diese Veranstaltung weiterempfehlen? Die Frage ist deshalb so schlau, weil sie nicht versucht, den Inhalt zu bewerten.

Erkennt man die Zufriedenheit nicht daran, wie gut sich eine Veranstaltung verkauft?

Heute gibt es variable Preisgestaltung, wie etwa bei Flugtickets. Da ist die Auslastung kein ausschließliches Kriterium mehr; die Säle werden sowieso gefüllt. Mehrere Opernhäuser, zum Beispiel in Chicago und Stockholm, gehen diesen Weg und generieren deutliche Mehreinnahmen.

Kennen Sie denn keinen gar Unterschied zwischen guter und schlechter Musik?

Betrachten Sie es mal historisch! Viele Komponisten, die heute als sehr gut gelten, galten auch mal als schlecht. Die Bewertung hat sich oft geändert. Spannend finde ich diese Frage bei Zeitgenossen wie zum Beispiel Ludovico Einaudi. Mir persönlich ist seine Musik zu langweilig. Aber ich bin fasziniert von deren Wirkung; viele Menschen sind davon unglaublich begeistert.

Wer weiß schon, ob Einaudi in 20 Jahren vergessen ist oder als Klassiker gilt? Als Geschäftsführer eines Festivals maße ich mir da kein Urteil an. Ich bestehe aber auf spieltechnischer Perfektion. Man kann auch Einaudis Stücke lausig oder gut spielen.

Welche Rolle kann Filmmusik in klassischen Konzertprogrammen spielen?

Eigentlich hat sich die Filmmusik aus der Klassik entwickelt. Da gibt es tolle Sachen, die von den Klassik-Hörern aber nur zäh angenommen werden. Das finde ich ein bisschen ungerecht. Mendelssohns „Sommernachtstraum“ war doch auch mal eine Schauspielmusik. Ich selber habe zum Beispiel den Harry-Potter-Soundtrack gespielt; das ist komplexe und raffiniert orchestrierte Musik.

Ähnliche Sachen werden in den nächsten Jahren noch stärker Einzug in die Konzertsäle halten. Wenn man sich mal das Programm von drei großen deutschen Klassik-Festivals anschaut: Rheingau, Schleswig Holstein, Mecklenburg-Vorpommern – die bringen längst nicht nur Klassik. Trotzdem verwässern sie damit nicht ihren Markenkern und werden auch in der Klassik-Welt weiterhin ernst genommen.

So ähnlich wie die Proms in London?

Genau! Da geht jedermann gerne hin. Die bringen natürlich ihre Klassik, aber auch populäre Stücke. Und die musikalische Qualität ist jederzeit super. Wir brauchen eine neue Einstellung: klassische Musik nicht festzuhalten und zu verteidigen, sondern zu verschenken und andere dazu einladen. Hierzulande gibt es oft die Einstellung: Was erfolgreich ist, kann nicht gut sein. Diesen Gedanken finde ich leicht pervers.


 

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