[…] Spenglers tiefste Ueberzeugung ist sein Glaube an den „Untergang des Abendlandes“, d.h. den Untergang der abendländischen Kultur. Die gesamte Musikgeschichte wird durch den Prozeß der Verdrängung der Vokal- durch die Instrumentalmusik begleitet, ein Prozeß, der die Befreiung der Tonkunst „von dem Rest des körperlichen im Klange der menschlichen Stimme“ darstellt. Mit der Vollendung der Sonatenform ist der Höhepunkt erreicht und schon Richard Wagner löst die Melodie auf, wie dies in der Malerei Manet und sein Kreis getan haben.
Wagner stellt die Musik in den Dienst des Charakteristischen, ein Umstand, der im Zusammenhange mit der primitiven Rückkehr zur Vereinigung der Künste steht: Scheinbar eine Rückkehr zum Elementarischen, zur Natur gegenüber der Inhaltsmalerei und der absoluten Musik, bedeutet Kunst ein Nachgeben vor der Barbarei der großen Städte, der beginnenden Auflösung, wie sie sich im Sinnlichen in einem Gemisch von Brutalität und Raffinement äußert, einen Schritt, der notwendig der letzte sein mußte. Eine künstliche Kunst ist keiner organischen Fortentwicklung fähig. Sie bezeichnet das Ende.
Daraus folgt – ein furchtbares Eingeständnis –, daß es mit der abendländischen bildenden Kunst unwiderruflich zu Ende ist. Die Krisis des 19. Jahrhunderts war der Todeskampf. Die faustische Kunst stirbt, wie die antike, die ägyptische, wie jede andere an Altersschwäche, nachdem sie ihre innern Möglichkeiten verwirklicht, nachdem sie im Lebenslauf ihrer Kultur ihre Bestimmung erfüllt hat.
Spengler ist der Kultur des 20. Jahrhunderts und vor allem den Künsten ungerecht. Die Parallele zwischen antiker Kultur und römischer Zivilisation einerseits und der faustischen Kultur und der westeuropäischen andererseits ist nicht absolut überzeugend. Wie auf die euklidische Kultur der Griechen eine unkomplizierte, in allen ihren Elementen erfaßbare Zivilisation folgt, so folgt auf die faustische sich in unendlichen Möglichkeiten bewegende europäische Kultur eine „faustische“, psychische Unendlichkeiten bergende Zivilisation. Der Geist der Gegenwart ist uns in seiner Gesamtheit unfaßbar, und wer wagte es, den zahllosen Möglichkeiten der Weiterentwicklung der modernen Musik ein Todesurteil zu sprechen?
Gewiß, wir sind an einem Ende angelangt. Doch stehen wir vielleicht nicht am Anfang oder mitten in einer neuen Kultur? […]
Paul Nettl, Neue Musik-Zeitung, 42. Jg., 9. Juni 1921