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Musikschule und Klassenunterricht: Erfahrungen und Erwartungen

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Großgruppen- und Klassenunterrichtsformen als "Neue Wege" bei der praktischen Musikschularbeit? +++ Erfahrungen und Erwartungen an deutschen Musikschulen, 2005 +++ Ergebnisse einer Kurzbefragung unter Musikschulen in Deutschland +++ Erhebungszeitraum: Februar - März 2005

Erhoben und analysiert durch: kultur21 / Gayer Consulting, Essen

I. Einleitung



Nicht oft genug kann betont werden, dass Musikschulen heute mehr denn je unverzichtbare bildungs-, sozial- und kulturpolitische Zwecke verfolgen und einen wesentlichen gesellschaftspolitischen Nutzen stiften. Gleichzeitig fordern aber fast allerorten öffentliche Träger einschneidende Budgeteinsparungen, denn Musikschulen werden zumeist noch immer als sogenannte freiwillige Aufgabe der Kommunen verstanden.

Forderungen nach einem Musikschulgesetz, das mithin die Finanzierung der Institute sicherstellen soll, werden immer lauter. Angesichts der zunehmend schwierigen öffentlichen Finanzlage erscheint aber auch eine (selbst-)kritische Überprüfung der Musikschulpraxis angebracht. Dabei sind die fachliche wie auch die betriebswirtschaftliche Praxis gleichermaßen zu würdigen, wenn man aktiv und nachhaltig zum Überleben der Musikschulen vor Ort beitragen will.

Aber wo kann überhaupt noch gespart werden, ohne das Angebot zu reduzieren?

Da die Personalkosten bekanntlich das Gros der Gesamtaufwendungen einer Musikschule ausmachen, erscheinen Aufnahmestopps vielfach als naheliegendes, wenngleich auch ungeliebtes Instrument, die Kosten in den Griff zu bekommen. Dabei wird jedoch übersehen, dass es neben dem „traditionellen“ Einzel- und Kleingruppenunterricht auch andere Angebotsformen gibt, wie etwa der Großgruppen- und Klassenunterricht sowie Projektangebote, die nicht selten besser geeignet sind, so manche Kernaufgabe der Musikschule zu erfüllen. Zudem ermöglichen diese Unterrichtsformen einer größeren Vielzahl von Schülerinnen und Schülern Zugang zum öffentlichen Bildungsangebot.

In den vergangenen Jahren rückten in diesem Zusammenhang das Thema „Kooperationen mit Allgemeinbildenden Schulen“ sowie das Stichwort „Offene Ganztagsgrundschule“ stärker in das Bewusstsein der Akteure – wenngleich die Auffassungen hier unter Praktikern oft geteilt sind.

Pädagogisch sinnvolle neue Wege der Musikschularbeit, die sozusagen „nebenbei“ auch den Bestand des örtlichen Musikschulangebot sichern helfen, müssen letztlich von allen Beteiligten gewollt oder zumindest akzeptiert werden. Die Stimmung an vielen Musikschulen zeigt: Purer „Druck von oben" hilft nicht weiter - Aufklärung tut Not.

Um in diesem Sinne zum Dialog beizutragen, haben wir von kultur21 im Vorfeld des Bundeskongresses der deutschen Musikschulen nach positiven und negativen Erfahrungen und Erwartungen bezüglich Großgruppen- und Klassenunterrichtsformen gefragt. Von rund 200 kontaktierten Musikschulen in NRW und in den benachbarten Bundesländern kamen 22 inhaltlich verwertbare Antwortbögen zurück. Diese vergleichsweise geringe Responserate (11%) der Kurzbefragung lässt generell ein eher geringes Interesse am Thema vermuten. Dies kann einmal daran liegen, dass oft überhaupt keine Erfahrungen oder Erwartungen vorliegen. Ferner kann die geringe Teilnahme aber auch auf eine insgesamt eher ablehnende als zustimmende Haltung gegenüber den untersuchten Unterrichtsformen interpretiert werden.

Natürlich sind die Ergebnisse der Erhebung nicht repräsentativ für alle Musikschulen. Es handelt sich vielmehr um gesammelte Argumente pro und contra, um Blitzlichter, die für Betroffene einmal den Blick exemplarisch auf andere Musikschulen lenken sollen, die vor ganz ähnlichen Herausforderungen stehen und ihre individuellen Erfahrungen und Erwartungen bezüglich der untersuchten Unterrichtsformen haben. Die im folgenden dargestellten Befragungsergebnisse können insofern als "Stimmungsbarometer" angesehen werden.


II. Darstellung der Ergebnisse

1. Erfahrungen mit Großgruppen- und Klassenunterrichtsformen

1.1. Leitgedanken

Sofern eine Musikschule überhaupt Erfahrungen mit Großgruppen- und Klassenunterrichtsformen hat, dann ist dahinter ein Zweck, ein Ziel zu vermuten.

(Nicht für alle Musikschulen abgefragte) Leitgedanken einer sehr engagierten Musikschule für (Groß-)Gruppen- und Klassenangebote waren:

- „Ernsthafter, aber durchaus auch ‚spielerischer‘ Umgang mit musikalischem Wissen und musikalischen Grundfertigkeiten
- Diszipliniertes Lernen in der Gruppe: Zuhören; Rücksicht nehmen; Teamfähigkeit
- Wendet sich an alle Kinder, auch an solche, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft
ansonsten eher nicht den Weg zum Instrument finden würde
- Verleiht dem Schulleben neue Perspektiven
- Eröffnet Möglichkeiten auch in Zukunft, nach und außerhalb der Grundschule, weiter zu
musizieren“.


1.2. Unterschiedliche Erfahrungen

Die Erhebung kann nichts darüber aussagen, welcher Anteil der Musikschulen bereits Erfahrungen mit den untersuchten Unterrichtsformen gemacht hat (u.a. deshalb, weil zu dem Thema tendenziell nur diejenigen antworteten, die Erfahrungen gemacht haben).

Sie zeigt aber, dass konkrete Erfahrungen geteilt ausfallen und bisweilen auch gemischt sind.

Mit 63% wurden die eigenen Erfahrungen mit Großgruppen- und Klassenunterrichtsformen unter den Teilnehmern überwiegend positiv beurteilt.

Jedoch machten auch 23% der Befragten klar, dass signifikante negative Erfahrungen vorliegen.

Sowohl positive wie negative Erfahrungen hatten knapp 14% der Befragten.


1.2.1. Positive Erfahrungen

Positive Erfahrungen gab es über auffällig viele unterschiedlichste Lern- und Aktivitätsinhalte hinweg: von Theorieangeboten wie Musikalische Grundausbildung (MGA) und Elementare Musikpädagogik über Trommeln, Rhythmus und Orff´sche Klang- und Schlagwerke bis zum Klassenmusizieren mit Blas- und Streichinstrumenten oder Ensembleaktivitäten.

Im Hinblick auf ihr Vorkommen dominierten positive Erfahrungen beim theoretischen Gruppen-/ und Klassenunterricht sowie bei Bläserklassen (28% bzw. 36% derjenigen Fälle mit guten Erfahrungen).

(Mindestens) 30% der positiven Erfahrungen wurden in Kooperationsprojekten mit allgemeinbildenden Schulen gemacht.

Prägnante Einzeläußerungen zu den Vorteilen der untersuchten Unterrichtsformen lauteten:

- „Ich unterrichte seit 5 Jahren gemeinsam mit einer Kollegin im team-teaching in einem Gymnasium Streicher AG´s. Wir haben Erfolg und nebenbei sehr viel Freude an dieser Unterrichtsform.“
- „Die Vorteile überwiegen, weil wir eine große Zahl von Kindern erreichen. Das
gemeinsame Step-by-Step Vorankommen macht Freude, bei Schülern und Lehrern.“
- „Alle bekannten Vorteile dieser Unterrichtsform (vgl. Prof. Bastian) erleben wir immer wieder“
 „Zur Ensembleergänzung, bessere Identifikation bei Schülern, finanzierbarer, effektiver bei geeigneten Lerninhalten.“

Der jeweilige Erfolg wird individuell unterschiedlich kommentiert bzw. begründet:

- Bzgl. Streicherklassen wurde bspw. mit großem Erfolg auf Methoden von Rolland zurückgegriffen („gute Ergebnisse, gutes Teamteaching“).
- Der Erfolg des Klassenmusizierens wurde wiederholt mit dem Üben in Verbindung gebracht. Im Falle einer Kooperation mit einer allgemeinbildenden Schule sei der diesbezügliche Nachdruck des Schulmusikers daher von zentraler Bedeutung.
- Gewachsene Strukturen sind von Vorteil (d.h. Großgruppen waren kein Neuland).
 Ein Teilnehmer konstatiert, dass Lernfortschritte in der Großgruppe ähnlich schnell erfolgen wie in einer Kleingruppe.

Ein Teilnehmer führte zur Erfolgsgeschichte detailliert aus:

In der Folge erster, kleiner Konzerte der Bläserklasse „wuchsen Ehrgeiz und Fähigkeiten“, wie durch mehrere weitere Konzerte und Aktivitäten dokumentiert wurde. Positiv wurden auch folgende Kennzahlen beurteilt:
- Von den 25 Kindern, die im September begonnen hatten, wollen 23 weiter aktiv
musizieren
- 8 von ihnen haben die Schule aufgrund erfolgreicher Versetzung in die 5. Klasse verlassen und erhalten nun Kleingruppenunterricht im Nachmittagsbereich der Musikschule
- 15 sind nun regulär im 4. Schuljahr und erhalten ihre musikalische Weiterbildung in der sog. Bläserklasse II
- 15 Neuanmeldungen aus dem dritten Schuljahr haben im September mit der sog. Bläserklasse I begonnen
- Die Fünftklässler verstärken bereits jetzt das Elementarblasorchester an der Musikschule


1.2.2. Negative Erfahrungen

Es gab aber auch vielfach Äußerungen zu Misserfolgen. Wie oben erwähnt gab es für 23% der Befragten negative Erfahrungen.

Einzelne Aussagen, die dies (fachlich oder vor administrativem Hintergrund) verdeutlichen, lauteten:

- Bei MGA: „Große Disziplinprobleme, Konzentrationsmängel“
- Generell nur „sehr schleppende Fortschritte“
- „Das Leistungsgefälle innerhalb der Gruppe kann sehr groß sein, dadurch können sehr gute Schüler unterfordert und eher schwache Schüler überfordert werden“.
- „Größerer Organisationsaufwand“.


1.3. Erwartungshaltung

Erwartungen heben auf zukünftige Erfahrungen, hier mit Großgruppen- und Klassenunterrichtsformen, ab.

Die Personen, die bereits positive Erfahrungen gemacht haben, hegten überwiegend auch positive Erwartungen.

Begründet wurden diese wie folgt:

- „Motivierendes Lernen in einer Gruppe mit gleichaltrigen Kindern
- „Mit zunehmender Erfahrung Verringerung der Problematik, Steigerung der Effektivität, Aufwertung der Musikschularbeit, sinnvolle Ergänzung des bisherigen Angebots.
- „Großes Zusammengehörigkeitsgefühl“
- „Seit Herbst 2004 betreut die Musikschule auch eine sog. "Orchesterklasse" an einem Gymnasium. Es werden Streicher und Bläsergruppen à 3 Schüler unterrichtet. Die Laufzeit dieses Projektes ist noch zu kurz für die Abgabe einer abschließenden Stellungnahme“
- „Mehr Schüler können zum aktiven Musizieren gebracht werden, mehr Spaß beim Üben, häufigere Übungszeiten“
- „(Hohe Erwartungen) im Bereich Gehörbildung/Harmonielehre wegen besserer Konzentration und Motivation. Ebenfalls bei Ensembles durch den Kontakt mit anderen und mehr Spielfreude“
- „Es ist einfacher, das Zusammenspiel zu fördern. Von Anfang an lernen Schüler besser auf das Spiel von anderen zu achten“
- „Durch Großgruppen können Kinder , die normalerweise nicht in den Genuß kommen, ein Instrument lernen, in die Musikschule integriert werden und möglicherweise dann individuell gefördert werden“
- „(Eignung für) Meisterkurse“

Generell kommentierte eine Musikschule ihre Erwartungen in einem beigefügten Statement recht detailliert:

„Die anbrechende Diskussion zur OFFENEN GANZTAGSSCHULE beflügelte im letzten Jahr das bereits vorhandene Bestreben aktives Musizieren in der Partner-Grundschule durchgängig für allen vier Klassen zu etablieren. Dass die Allgemeinbildenden Schulen mehr und mehr zum Lebensmittelpunkt der kommenden Schülergenerationen werden, zeichnet sich derzeit deutlich ab. Dieser Umstand bedingt ohne Frage die Neuorganisation von kulturellen Angeboten und eröffnet gerade im musischen Bereich neue inhaltliche und organisatorische Möglichkeiten. Das neue Gesicht der Allgemeinbildenden Schulen beinhaltet aktive Unterstützung von Kulturträgern außerhalb des eigenen Schulsystems. Musikschulen haben mehr denn je Gelegenheit im Knotenpunkt SCHULE Verantwortung zu übernehmen und Initiativen zu ergreifen. Mit ihrem Praxiswissen laufen sie bei den Schulträgern in der Regel offene Türen ein. Die kluge Schaffung tragfähiger Kooperationen innerhalb der veränderten Schullandschaft ermöglicht breit angelegte Basisarbeit und eine zukunftsorientierte Musikalisierung junger Menschen.“

Sofern negative Erwartungshaltungen auftraten - immerhin bei knapp einem Drittel der Befragten - so begründeten sich diese etwa auf folgende Argumente:

- „Alles läuft auf Durchschnittstempo“
- „Der Geräuschpegel ist höher als bei Kleingruppen“
- „Bei Klassenunterricht: Raumprobleme in den Schulen, Musizieren im Klassenverband halte ich für äußerst problematisch, außerdem die Finanzierbarkeit (Instrumente ...:)“
- „Als Klavierlehrerin sehe ich zum Einzelunterricht in meinem Fach keine Alternative“
- „Im Bereich Instrumentalunterricht keine positiven Erwartungen . Es sei denn es gäbe eine permanente Verknüpfung von Einzel- und Großgruppenunterricht“
- „Es wird unmöglich, Intonation und Haltung des Instrumentes zu korrigieren (hier Blockflöte). Fehler schleichen sich ein, die nur äußerst schwer wieder zu korrigieren sind“

Besonders krass lautete folgendes Resümee: „Sehe keinerlei Vorteile“. Klar, dass hier weder positive Erfahrungen noch Erwartungen bestehen. Ähnlich drastisch kommentierte ein weiterer skeptischer Teilnehmer: „(Habe) keine Erfahrungen mit Großgruppen- oder Klassenformen gemacht, außer in der Schule, und das war mies!“

Im direkten Vergleich dagegen die zusammenfassenden Kommentare offenbar durch (Erfahrungs)Welten getrennter, zufriedener Kollegen:

- „Die Form des Klassenmusizierens ist sehr empfehlenswert“
- „(Unsere) Erfahrungen und Erwartungen sind insgesamt sehr positiv, sowohl Eltern als auch Schüler sind begeistert und die Schulleitung auch.“ (Dieser Musikschulmitarbeiter ist gleichzeitig auch Gymnasiallehrer für das Fach Musik).

Als konstruktive Anregung forderte ein Teilnehmer in diesem Kontext „Seminarangebote zu didaktischen Aufbau und Struktur eines solchen (Klassen)Unterrichts“. Die durchaus bestehenden Angebote (Infos über den VdM oder die Landesverbände) müssen offenbar noch stärker publik gemacht werden.

Ein kollegialer Hinweis für die moderne MS-Praxis in größeren Gruppen lautete: „Arbeiten mit dem Computer, um Schülern die Machart der heutigen Popmusik zu erklären, für die ihre Begeisterung in den meisten Fällen am höchsten ist. Anschließend instrumentelle Umsetzung, wenn dies pädagogisch wertvoll ist.“

Ein Befragter brachte seine positiven Erwartungen schließlich auf den Nenner, mittels Großgruppen- und Klassenunterrichts aktiv die „Chancen für die Zukunft nutzen“ zu wollen.


Über kultur21: kultur21 bietet Analysen und Konzepte sowie Beratungsleistungen für Kulturbetriebe an und ist ein selbständiger Bereich innerhalb des Beratungsunternehmens Gayer Consulting in Essen.

In den vergangenen Jahren wurden mehrere Studien für den Landesverband der Musikschulen in NRW (LVdM e.V. NRW) angefertigt. Darüber hinaus zählen zu den Referenzen etwa die Moerser Musikschule (Wirtschaftlichkeitsgutachten) sowie diverse private Musikschulen und die Einkaufsgenossenschaft für Musikschulen Gemse e.V.


Mehr Informationen unter http://www.kultur21.com

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