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Buchlesung: Kirche war wie zu DDR-Zeiten überfüllt

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"Leibhaftig" in der Pankower Kirche - Christa Wolf las erstmals aus ihrem neuen Buch

Berlin (ddp-bln). Wieder war die Alte Dorfkirche im Berliner Stadtteil Pankow am Dienstagabend ein Ort für das Nachdenken und die Diskussion. Die Buchhandlung Saavedra und der Luchterhand Literaturverlag hatten zur ersten öffentlichen Lesung von Christa Wolf aus ihrer soeben erschienenen Erzählung "Leibhaftig" eingeladen. Fast 800 Menschen drängten nach teilweise chaotischen Einlassbedingungen in die überfüllte Kirche. Selbst auf den Stufen zur Kanzel saßen die Zuhörer. Viele überbrückten die Zeit bis zur Lesung mit ersten Blicken in das Buch. Er ist erst seit Montag in den Läden erhältlich.

Der Ort für die Buchpremiere von Christa Wolf war treffend gewählt: Die Alte Dorfkirche Pankow war zu DDR-Zeiten ein Treffpunkt für Andersdenkende. Unter den Intellektuellen galt die Schriftstellerin als ein Symbol für eine alternative Gesellschaft. Literaturnobelpreisträger Günter Grass hatte nicht zuletzt am 70. Geburtstag der Autorin vor zwei Jahren vom Mut der ostdeutschen Kollegen gesprochen, denen mit Hochachtung zu begegnen sei. In einem Interview kurz nach dem Bekanntwerden seiner Nobelpreisehrung im September 1999 hatte Grass bekannt, er hätte den Preis gern mit Christa Wolf geteilt. Eine Leistung der beiden deutschen Literaturen habe darin bestanden, dass es nicht zu einer endgültigen Teilung kommen konnte. Auch Grass war bereits als Gast mit einer Lesung in der Kirche.

"Es ist ein wenig beklemmend", sagte die Schriftstellerin, "zum ersten Mal aus diesem Text vor großer Menge zu lesen." Sie habe dafür mehrere Erzählstränge ausgewählt und wolle versuchen, sie zu verknüpfen wie ein Gewebe: "Ein Gewebe ist mein ästhetisches Ideal", sagte Wolf.

"Leibhaftig" beschreibt die lebensbedrohliche Krankheit einer Frau. Ihr Körper wird gleichzeitig zum Seismographen des allgemeinen Zusammenbruchs der DDR. Die Ich-Erzählerin ist diesen Bildern der Erinnerung ausgeliefert. Wolf wählt die Krankheit als Metapher. Die Ärzte dringen nicht zur Wurzel des Übels vor, "dorthin, wo der glühende Kern der Wahrheit mit der Kern der Lüge zusammenfällt". Im Gespräch mit dem Chefarzt erkennt sie: "Ich leide, ein anderer weiß es. Kein Gehabe von mir, kein Getue von ihm. Nur was der Fall ist."

Verlagsleiter Gerald Trageiser hatte zuvor über seine Sicht auf die Erzählung gesprochen. Er hob die stilistische Ironie und Selbstironie der Autorin als heitere Gelassenheit" hervor, die er in diesem neuesten Werk "vollendet" nannte. Er sprach von der Liebesgeschichte zwischen der Erzählerin in "Leibhaftig" und dem unsichtbaren Du. Trageiser verschwieg auch nicht die Schwierigkeiten von Rezensenten mit der Figur des Hannes Urban in dem Buch. Er ist ein Kulturfunktionär in der DDR, dem die Ich-Erzählerin mit "großer Anteilnahme und Betroffenheit" begegne. Trageiser sagte, Christa Wolf habe stets betont, sie gehöre zu denen, die die Pflicht hätten, etwas über die Geschichte zu sagen und sie in den Erzählungen aufzunehmen.

Das Publikum lauschte gebannt der etwa einstündigen Lesung. Es gab Lacher und Schmunzler, viele nachdenkliche Gesichter und am Ende lang anhaltenden Applaus. Im Publikum saßen auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) und Schriftstellerkollegen, unter anderen Volker Braun. Viele Zuhörer nahmen im Anschluss ein signiertes Buch mit nach Hause, nachdem sie ein paar Worte mit Wolf gewechselt hatten. Sechs Jahre nach ihrem Roman "Medea. Stimmen" habe sich die Schriftstellerin eindrucksvoll mit "Leibhaftig" zurückgemeldet, war der allgemeine Tenor des Abends. Drei Tage nach ihrem 73. Geburtstag am 18. März wird Wolf bei einer Gala auf der Leipziger Buchmesser für ihr Lebenswerk mit dem Deutschen Bücherpreis 2002, dem "Literatur-Oscar", geehrt.

Andrea Marczinski