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Lesestoff im Frühjahr 2002: Wenige Debüts, dafür jede Menge Altmeister

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Der Bücherfrühling 2002 gehört aus deutscher Sicht in erster Linie den ergrauten Eminenzen. Die deutschen Autoren Peter Handke, Günter Grass, Christa Wolf und Hermann Kant melden sich nach zum Teil längeren Jahren des Schweigens zurück.

Berlin (ddp). Wohl kaum den Geschmack eines großen Publikums dürfte Peter Handkes "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos" treffen. Sein 760-Seiten-Buch stellte bereits renommierte Literaturkritiker auf eine harte Probe. Die Reise einer Bankerin durch die Sierra de Gredos ist mitnichten ein Abenteuertrip, eher eine Reise um der inneren Bilder willen, deren suggestive Kraft Handke beschwört. Ob das "große Sehnsuchtsbuch", so der Suhrkamp Verlag, die Leser wirklich mitnimmt auf seine imaginäre Reise, werden diese selbst entscheiden.

Nobelpreisträger Günter Grass verknüpft in seiner Novelle "Im Krebsgang" die Internet-Recherche eines Journalisten mit den dramatischen Ereignissen im Januar 1945, als das mit mehreren tausend deutschen Kriegsflüchtlingen überladene Schiff "Wilhelm Gustloff" von den Sowjets in der Ostsee versenkt wurde.

Endzeitstimmung und Neubeginn bei Christa Wolf. Ihre Erzählung "Leibhaftig", in der ein Alter ego der Schriftstellerin schwer erkrankt und ums Leben kämpft, setzt auf die Krankheit als Metapher. Ein Staat zerbricht, wie überlebt das Individuum? Der Zusammenbruch flutet innere Dämme: die Ich-Erzählerin ist den Bildern ihrer (DDR-) Vergangenheit ausgeliefert und erlebt ein Purgatorium. DDR-Vergangenheitsbewältigung betreibt auch Hermann Kant: In seinem Roman "Okarina" leben die 50er Jahre noch einmal auf.

Aus Amerika kommen ein neuer Irving, der dritte Teil der Amerika-Trilogie von Philip Roth und ein historischer Roman der Kritikerin und Regisseurin Susan Sontag in die Buchläden. Während Irvings Roman "Die vierte Hand" sich auf die einfache Formel "Ein Journalist verliert seine Hand und gewinnt die Liebe" reduzieren lässt, ist Roths Roman "Der menschliche Makel" eine spannende und brillante Analyse der amerikanischen "Ekstase der Scheinheiligkeit". Angesiedelt im Clinton-Lewinsky-Jahr 1998, erzählt Roth die Geschichte des 71-jährigen Hochschulprofessors Coleman Silk, dem eine abfällige Bemerkung in einem Seminar und eine Affäre zu einer deutlich jüngeren Frau zum Verhängnis werden. Das Schicksal polnischer Einwanderer nach Amerika im Jahre 1876 verfolgt Susan Sonntag. Lapidar der Titel "In Amerika", überbordend die Handlung.

Der Boom lateinamerikanischer Literatur ist in den letzten Jahren merklich abgeflaut. Für die Publikation eines bereits 1970 in Peru erschienenen Klassiker von Alfredo Bryce Echenique "Eine Welt für Julius", hat sich der Suhrkamp Verlag entschieden. Einen neuen Autor aus Cuba präsentiert Hoffmann und Campe. Pedro Juan Gutiérrez\' "Schmutzige Havanna Triologie" taucht tief ein in die Abgründe der Castro-Stadt. Ein groteskes Welttheater inszeniert der Chilene Roberto Bolano in "Die wilden Detektive".

Skandalautor ist man nur ein Mal. Die Wiederholung dämpft den Schrei der Provokation. Michel Houellebecqs "Die Plattform" kreist wieder um Gewinn und Verlust. Die westliche Welt kann sich alle Bedürfnisse befriedigen, nur beim Sex will es laut Houellebecq nicht mehr so richtig klappen. Ob Ferienclubs mit Thai-Atmosphäre die Lösung sind? Madeleine Bourdouxhe, bereits 1996 in Brüssel verstorben, bekommt leider erst posthum die ganz große Aufmerksamkeit. Nach "Gilles Frau" und "Auf der Suche nach Marie" liegt jetzt "Vacances. Die letzten großen Ferien" auf Deutsch vor. Eine ganz neue Frauenstimme aus Frankreich wird sich mit Sicherheit Gehör verschaffen: Anna Gavaldas Erzählungen "Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet" sind ebenso fabelhaft wie skurril - Filmheldin Amélie lässt grüßen.

Im Gegensatz zum Bücherfrühling vergangener Jahre können nur wenige Debütanten gesichtet werden. Einer davon ist der Australier Matthew Knox mit seinem Beziehungsroman "Sommerland". Andere, deren Erstlinge vor ein, zwei Jahren wie eine Bombe einschlugen, legen nach und müssen nun der kritischen Bewertung ihrer Folgeromane standhalten, so Elke Schmitter mit "Leichte Verfehlungen" nach ihrer stürmischen "Frau Sartorius" oder Andreas Maier mit "Klausen" nach "Wäldchenstag".

Kein Mangel herrscht wie immer auf dem Gebiet der Schurkenjagd. Patricia Cornwall aus Amerika, die Britin P.D. James und Anne Holt aus Norwegen sind inzwischen Dauerbrenner, die Russin Polina Daschkowa geht nach ihrem viel beachteten Debüt "Die leichten Schritte des Wahnsinns" in die zweite Runde mit "Club Kalaschnikow", Kommissar Brunetti von Donna Leon ist bald reif für die Pensionierung, denn er löst in "Das Gesetz der Lagune" bereits seinen zehnten Fall. Wallander von Henning Mankell legt eine Verschnaufpause ein. In den neuen Erzählungen wird sein erster Fall ausgegraben. Ake Edwardson ("In alle Ewigkeit") und Helene Tursten ("Die Tätowierung") halten derweil die Fahne der schwedischen Meister-Cops aufrecht.

Afghanistan und religiöser Fundamentalismus: Das Interesse an Büchern an diesen Themen ist ungebrochen. Zu der literarischen Stimme Afghanistans ist der im französischen Exil lebende Schriftsteller Atiq Rahimi geworden. Sein Roman "Erde und Asche", eine eindrucksvolle Parabel über Krieg und Vergeltung, ist jetzt auf Deutsch erschienen. Wie ein junger Algerier in die Fänge des islamischen Fundamentalismus gerät, das erzählt der Roman von Yasmina Khadra "Wovon die Wölfe träumen". Eigentlich heißt der Autor Mohammed Moulesschoul. Sein Pseudonym konnte der algerische Autor erst lüften, als er im Dezember 2000 mit seiner Familie ins französische Exil ging.

Astrid Braun