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«20th Century Blues» - Christoph Marthalers irr-witzige Reise in ein vergangenes Jahrhundert - Deutschland-Premiere in Braunschweig
Die Musik zum Gefühl kommt aus dem Orchestergraben unter der musikalischen Leitung von Jörg Henneberger, der bei seinem ersten Bühnenauftritt erst mal im Bühnenboden einbricht. Ja, Slapstick gehört genauso zum Programm wie makabere Scherze a la Monty Python. Dass das Staatsorchester Hannover samt Leitung in der Versenkung verschwindet, ist reine Nebensache. Die Musiker sind es, die den Ton angeben und diesen poetisch-melancholischen Theaterabend immer wieder aufs Neue inszenieren und beleben. Ein musikalischer Abend ganz ohne Oper, der in den sinfonischen Liedkompositionen aus der Zukunft in die Vergangenheit blickt. Blick zurück, Theater nach vorn.
Irr-witzig ist diese Reise in die Vergangenheit allemal. Schauplatz ist ein Museum, in dem keine Bilder (mehr) hängen, und wo die Protagonisten aufeinander zugehen, um sich noch schneller wieder voneinander zu entfernen. Es geht um den «Blues», um das Gefühl der Depression, Entwurzelung, Leere und Hoffnungslosigkeit. Aber die Darsteller fangen sich - kurzzeitig, um in der Absurdität die Endzeitstimmung zu überdauern. Balletteinlagen in Unterwäsche, ein Tanz der Versehrten, Akrobatik und mechanischer Sex, Emotionen und Melancholie - die sechs Reisenden geben alles, um doch am Ende immer wieder buchstäblich am Boden zu liegen.
Dabei spielt Marthaler mit den Emotionen der Zeit und der Zuschauer, der Grat zwischen Witz und Würdelosigkeit ist zuweilen reichlich schmal. Altea Garrido, Rosemary Hardy, Christoph Homberger, Thomas Stache, Grahame Valentine und Markus Wolff zeigen perfektes Spiel um den Tanz auf dem Vulkan. Die Musik dazu klingt seltsamerweise immer wieder neu, obwohl auch sie zur Vergangenheit gehört - mit Gustav Mahler als Wegbereiter für alle ihm folgende Neue Musik.
Eine reine Wohltat ist es nicht, in das traurige, experimentelle Stück Vergangenheit zurückzublicken. Die Zukunft nämlich, die diesen Blick gewährt, ist eine, die nach Karl Valentin «früher viel besser war». Das Große Haus in Braunschweig jedenfalls war zur ersten Aufführung des Stücks in Deutschland ein volles Haus, und sowohl Darsteller als auch Darstellung bekamen riesigen Applaus. Wenn das, so ein Zuschauer, ein Experiment gewesen sein soll, so «ist das mehr als gelungen». Es lebe das 20. Jahrhundert, inklusive Blues.
Das niedersächsische Festival Theaterformen startet nach ersten Aufführungen in Braunschweig nun auch in Hannover. Am Samstag ist «Trauer muss Elektra tragen» unter der Regie von Frank Castorf um 19.00 Uhr im Schauspielhaus zu sehen.
Susanna Bauch