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Thomas Hartmann: Mama lauter! Gute Musik für Kinder. Kritischer Streifzug durch eine unterschätzte Gattung, ConBrio
Thomas Hartmann: Mama lauter! Gute Musik für Kinder. Kritischer Streifzug durch eine unterschätzte Gattung, ConBrio
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Anspruch und Wahrhaftigkeit

Untertitel
Thomas Hartmanns kritischer Streifzug durch die Kindermusikszene
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Es war einmal im Jahre 1897, als der Komponist und Volksliedforscher Franz Magnus Böhme in seiner zweibändigen Sammlung „Deutsches Kinderlied und Kinderspiel“ das Ergebnis seiner Sammelleidenschaft nüchtern zusammenzufassen wusste: „Von der Musik der Volks-Kinderlieder darf man sich freilich keine hohe Vorstellung machen. Der wahre Kindergesang ist im Ton und Takt höchst einfach. Alle Kindermelodien haben in allen Gegenden Deutschlands und so in anderen Ländern eine stereotype Form. Der Kindergesang […] kennt eigentlich nur eine einzige Melodie. Diese geht aus Dur, hat zwei Zweivierteltakte und ist die beständige Wiederholung von zwei Takten.“ Wie weit entfernt ist diese Situationsbeschreibung vom Kinderlieder-Maxi-Mix unserer Tage, der uns täglich davon erzählt, welche erstaunlichen Klangfarben das Singen annehmen kann und uns immer wieder dazu ermuntert, den einfachen und wesentlichen Lebensäußerungen den nötigen Raum zu schenken. Seit dem Orpheus-Mythos hat das Singen die Philosophie und Literatur geprägt, warum sollte es sich nicht auch mit entsprechenden Mitteln am Niedergang des Abendlandes beteiligen wollen?

Die vorliegende Abhandlung „Mama lauter!“ setzt sich auf höchst unterhaltsame Weise, manchmal auch mit kleinen, erfrischend ironischen Spitzen, mit der Kindermusikszene auseinander: „Wer die Ohren seiner Sprösslinge für Vielfalt und Qualität sensibilisieren möchte, der sollte im Zweifel die heimische Musiksammlung jedem gut gemeinten Kinderlied vorziehen“ (S. 14). Solch eine „Einladung zu Austausch und Diskurs“ (ebd.) macht neugierig auf „künstlerische Entgleisungen“ (S. 35), auf jene Lieder, die sich weniger auf Orpheus’ Höhen, sondern eher in Niederungen, „auf dem künstlerischen Niveau eines Après-Ski-Hits“ (S. 149), bewegen. Die Rede ist auch von pädagogischen Gassenhauern, als sei Goethes Vision der im Wilhelm Meister beschriebenen Zukunftsgesellschaft, in der „Gesang die erste Stufe der Bildung“ sei, endlich Wirklichkeit geworden: „Deshalb haben wir unter allem Denkbaren die Musik zum Element unserer Erziehung gemacht“, schreibt Goethe in seinem großen Bildungsroman. Der belehrende Zeigefinger schwingt in zahlreichen Liedern stets mit. Und nach den täglichen „Glaubens- und Sittenbekenntnissen“, zu denen sich in unseren Tagen noch Rechenlieder, Selbstoptimierungen zu Sozialkompetenzen und Bildungskampagnen für nachhaltige Entwicklung gesellen, werden unsere Kinder so weltoffen und vernünftig, dass den im bloßen Mainstream-Klassik sich bewegenden Eltern und den popkulturierten Großeltern selbst in einer besungenen Welt voll Sonnenschein angst und bange werden dürfte.

Beginnen tut das Buch mit einem sehr persönlichen Bekenntnis zur eigenen frühkindlichen Teilhabe als Background-Vocal für Rolf Zuckowski als den ersten „musikalischen Ritterschlag“ (S. 9), zur musikalischen Heimat in den „Real-Books“ von Bands und Bigbands und den Praxiserfahrungen im Kinderhörfunk. Die dann folgende „Kartographie der Kindermusik-Szene“ (S. 18) ist breit angelegt, fragt nicht nur nach dem wieso, weshalb, warum, sondern widmet sich auch den Vertriebsgeheimnissen, den Labels und Verlagen und stellt „ausgewählte Akteure im Kurzportrait“ (S. 53) vor. Die Dynamiken der unabhängigen Szene werden ebenso beschrieben wie die Spezifika der Live-Events, ein historischer Rückblick auf das gute alte Kinderlied darf ebenso wenig fehlen wie die Beantwortung der Frage nach „guter“ Kindermusik: „Es gibt drei goldene Regeln, um einen guten Song zu schreiben. Leider sind sie unbekannt.“ (S. 103). Der Würdigung von Fredrik Vahle und Rolf Zuckowski ist ein eigenes Kapitel gewidmet, bevor es dann um die Beschreibung von Kindheit, um Musikvorlieben, Märkte, Erfolgsgeschichten und Förderprogramme geht.

Die stets aktualisierte Website zu „Mama lauter“ richtet sich unter www.papa-lauter.de übrigens dezidiert auch an engagierte Väter, die auf dem Weg zur Arbeit immer noch Ritter-Rost hören, obwohl sie die eigentliche Zielgruppe längst in der KiTa abgeliefert haben. „Mama lauter“ ist ein Ruf der Kinder, das Buch versteht sich schließlich auch als ein Versuch, ihre Perspektive mehr in den Vordergrund zu stellen und jenen eine Stimme zu geben, für die solche Lieder gedacht sind. Kinder betrachten nämlich die ihnen zugedachten Medienangebote ausdrücklich als Vorschlag und wechseln gerne auch in die Spartenkanäle der Erwachsenenwelt. Der Untertitel „Gute Musik für Kinder“ macht hier deutlich, dass es in dem Buch weniger um die Beschreibung eines Genres oder gar um eine musikalische Gattung geht. Es geht um Musik – und auch das Singen ist viel mehr als ein Mittel zur Erziehung.

„Gute Musik für Kinder“ ist deutlich weiter zu fassen als es jenes Liedgut vermuten lässt, dessen vermeintliche Lebensnähe scheinbar mehr zählt als jede Kunstfertigkeit. Sollten an „gute Musik für Kinder“ nicht auch die gleichen Kriterien angelegt werden, die auch für die Musik der Erwachsenen gelten? In Anlehnung an Bertold Seliger versteht der Autor sein Buch in genau diesem Sinne als eine Forderung, für Anspruch und Wahrhaftigkeit einzustehen: „Es geht um Musik, die die zentralen Probleme und Fragestellungen der menschlichen Existenz zu berühren sucht. Musik, die uns ins Herz (oder wie man sagt, ‚ins Mark‘) zu treffen geeignet ist“ (Seliger).

Der Autor Thomas Hartmann ist davon überzeugt, „dass gute Kinderlieder eine ernsthafte Grundhaltung voraussetzen und genau deshalb auch eine wichtige Brücke zu ‚ernster‘ Musik schlagen können“ (S. 228). Wer in dieses Plädoyer des Autors einstimmen und sich an den Maßnahmen eines solchen Brückenbaus beteiligen möchte, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.

  • Thomas Hartmann: Mama lauter! Gute Musik für Kinder. Kritischer Streifzug durch eine unterschätzte Gattung, ConBrio, Regensburg 2021, 295 S., € 24,80, ISBN 978-3-940768-91-9

 

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