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Aus vier Bänden klingt Gesang

Untertitel
„Die großen Sänger“: Jürgen Kesting hat sein Opus Magnum gründlich erweitert
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Wenn in Opernkritiken in der Regel etwa drei Viertel des Textes der Inszenierung gelten, während zur Charakterisierung der musikalischen Interpretation ein paar Sätze und zu den sängerischen Leistungen ein paar Halbsätze genügen müssen, so ist dies nicht unbedingt nur den Segnungen des Regietheaters geschuldet. Es hat wohl auch etwas damit zu tun, ob zur Beschreibung stimmlicher Phänomene und Qualitäten ein adäquates, gleichzeitig aber verständliches Vokabular zur Verfügung steht.

Nicht ohne Neid liest man da die Texte eines Jürgen Kesting, lässt aus dem Klang einer seiner Verbalisierungen eine innere Klangvorstellung entstehen, um diese dann mit eigenen Hörerfahrungen zu vergleichen: „Der Tonanschlag auf dem ‚f‘ von ‚Una‘ – also in der Bruchlage – bekommt die Festigkeit und Resonanz eines sanften Glockenschlages. Das Tempo ist sehr langsam, fast überdehnt: Aber Caruso bewahrt die Spannung durch die klangliche Intensivierung der Phrasen-Enden, die immer perfekt auf den Atem und nie mit einem Nachstoßen … ausklingen …“ (Bd. I, S. 12 f.)

Nachzulesen ist solcherlei seit 1986 in Kestings Monumentalwerk „Die großen Sänger“, das nunmehr um einen Band erweitert vorliegt. Die Neuausgabe erschöpft sich aber keineswegs in der ergänzenden – und in der Analyse der Diskrepanzen zwischen dem Marktwert und der tatsächlichen Qualität einer Stimme weiterhin brillanten – Darstellung der Entwicklung der letzten zwanzig Jahre, in denen faszinierende Stimmen wie Cecilia Bartoli oder Juan Diego Florez sowie viele Protagonisten aus dem Bereich der historischen Aufführungspraxis die Bühne betreten haben. Die Überarbeitung reicht bis in die Neugliederung einzelner Bereiche und die Beurteilung von Sängerpersönlichkeiten hinein.

So ist etwa seine kritische, aus rein stimmlichen Gründen durchaus nachvollziehbare Auseinandersetzung mit Dietrich Fischer-Dieskau einer stärker abwägenden, die außerordentliche Vermittlungsleistung für das Kunstlied in den Vordergrund rückenden Würdigung gewichen; auf manch schneidende Beurteilung einer einzelnen Partie muss man dafür verzichten.

Nicht in allen Abschnitten hat sich die Umarbeitung ausschließlich positiv ausgewirkt. So hat Kesting seinen Exkurs über Richard Wagner (Bd. I, S. 127 ff.), der unter anderem mit dem Missverständnis aufräumt, Wagner habe es begrüßt, wenn vokale Defizite mit darstellerischen Mitteln kompensiert wurden, deutlich erweitert. Während die frühere Fassung konziser und direkter auf historische Gesangsphänomene einging und deren Entwicklung bis in die Gegenwart verfolgte, wollen sich in der Neuauflage die zahlreichen Zitate aus Wagners Schriften nicht recht zu einem Bild von dessen Stimmideal fügen. Das mag angesichts der Komplexität der Materie beabsichtigt sein, bleibt aber doch unbefriedigend. Die Lesbarkeit erschweren überdies einige Nachlässigkeiten bei der Zitierweise (fehlende An- oder Abführungszeichen). Das große Callas-Kapitel (Bd. III, S. 1.489 ff.) ist nunmehr schlüssig in zehn Abschnitte gegliedert, dafür fehlen einige schöne Interpretationsanalysen.

All das (die fehlenden Bandangaben im Register wären noch zu bedauern) trübt indes den nach wie vor Ehrfurcht gebietenden Gesamteindruck keineswegs. Noch besser als in der ersten Fassung scheint die gegenseitige Ergänzung und Erhellung von Einzelporträts auf der einen und Darstellung größerer Zusammenhänge andererseits gelungen zu sein. Kaum ein anderes Kompendium verlockt ob seiner sprachlichen Finesse, seiner Lust an klaren Urteilen und seiner Fülle an Detailbetrachtungen so sehr zum Schmökern wie Kestings Opus Magnum. Und verführt zur Überprüfung der eigenen Kriterien anhand der stets konkret herangezogenen Einspielungen. Wer Kesting liest, hört mehr.

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