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Hans-Joachim Hespos. Foto: Stefan Drees
Hans-Joachim Hespos. Foto: Stefan Drees
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„Bei mir geht es immer um das Unmögliche“

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Zum Tod des unbequemen Aufrüttlers und Anregers Hans-Joachim Hespos
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Mit der Bemerkung, in seiner Musik gehe es „immer um das Unmögliche“, fasste Hans-Joachim Hespos im Mai 2010 anlässlich eines Workshops mit Studierenden an der Folkwang Universität der Künste in Essen die Essenz seiner künstlerischen Arbeit zusammen. Tatsächlich kreiste das Kunstverständnis des 1938 in Emden geborenen Komponisten beharrlich um solche „Unmöglichkeiten“, erwies sich das Er-kunden von Grenzsituationen als anhaltende Triebkraft seiner Tätigkeit. Bereits im ersten von ihm als offiziell anerkannten Stück für cello solo (1964) entfaltet sich auf dieser Grundlage eine radikal verdichtete Expressivität, gerichtet auf die Suche nach jenem „Existenziellen“, das Hespos als Kern des Komponierens betrachtete.

Die vom Komponisten in Texten, Gesprächen oder Partituren häufig verwendete Begrifflichkeit „neu-Anders“ bezeichnet die Eigenart dieses Kerns sehr genau. Sie charakterisiert darüber hinaus aber auch einen Lebensweg, dessen Verlauf von einem im weitesten Sinn erzieherischen Handeln und Suchen geprägt war. Sei es während der zwanzigjährigen Tätigkeit als Hauptschullehrer, die Hespos nach dem Abschluss eines pädagogischen Studiums ausübte, sei es anlässlich der Aktivitäten als Dozent und Gastprofessor, die er seit den 1980er-Jahren im In- und Ausland verfolgte, oder sei es im Rahmen des Engagements für Vermittlungsprojekte zur zeitgenössischen Musik: Immer ging es ihm um „all das, was wir nicht wissen“, um das Aufspüren von Alternativen zur gängigen Praxis und damit auch um das Hinterfragen scheinbarer Selbstverständlichkeiten.

Von dieser Bemühung künden nicht zuletzt die Partituren, deren Veröffentlichung in Gestalt von Faksimiles der Komponist seit 1978 im Eigenverlag betrieb: Oft sind die Stücke unabhängig von der Besetzungsgröße auf riesenhaften Notenblättern notiert, die Einblicke in die Gesamtheit aller musikalischen Gestalten und deren Beziehungen untereinander erlauben, aber kaum Ähnlichkeiten zu herkömmlichen Partituren aufweisen. Zwar stützte sich der Komponist auf ein Zeichensystem, das in den Notationsgegebenheiten der mitteleuropäischen Musik wurzelt; doch erweiterte er es um zahlreiche grafische Elemente und Symbole, um die vielfältigen Übergangsbereiche zwischen Klang und Ge-räusch besser abbilden zu können. Der besondere Charakter der Notation resultiert freilich daraus, wie Hespos diese Elemente unter Verwendung typografischer Komponenten und verbaler Hinzufügungen in eine das rein technische Verständnis von Klangproduktion überschreitende Dimension erweiterte. Alle von ihm festgehaltenen Anweisungen, von sprachlich überspitzten Ableitungen her-kömmlicher Vortragsbezeichnungen bis hin zu fantasievollen onomatopoetischen Wortschöpfungen reichend, fügen sich letzten Endes zu einem Netz aus Hinweisen auf räumliche, visuelle und klangliche Details der Aufführung.

Die Entschlüsselung solch komplexer Kontexte erfordert einerseits ein hohes Maß an Kreativität, ist andererseits aber auch mit teils extremen Anforderungen verbunden. Denn Hespos formulierte immer wieder Grenzwertiges, richtete sich gegen instrumentale oder vokale Gewohnheiten und kratzte bewusst am Nimbus technischen Könnens, indem er eben „Unmöglichkeiten“ einforderte. Beispielsweise dadurch, dass er physische Erschöpfungszustände samt ihrer unkalkulierbaren Auswirkungen provozierte und in Ausdrucksdimensionen ummünzte: Eines der denkwürdigsten Beispiele hierfür findet sich in „seiltanz – szenisches abenteuer“ (1982), wo die Bläser aufgrund des ermüdenden Agierens in extremen Lagen und Lautstärken bis ans Ende ihrer physischen Leistungsfähigkeit getrieben werden, bevor sie, längst dem Verlust der Kontrolle über ihren Ansatz erlegen, dazu aufgefordert werden, eine „Periode langer Gesänge“ mit zartesten, leisen Klängen hervorzubringen. Vergleichbare Überforderungen durchziehen das gesamte Schaffen von Hespos. Sie repräsentieren jenes „Existenzielle“, das der Komponist beständig zu fassen suchte, um damit in musikalische Regionen vorzudringen, die sich auf anderen Wegen nicht erschließen lassen.

„Wenn du etwas schreibst, denke nie an die Aufführbarkeit. Wer an die Aufführbarkeit denkt, schreibt Mittelmaß und ist in zwei Jahren vergessen.“ Dieser Maxime, die Hespos 2010 den Studierenden in Essen mit auf den Weg gab, ist er mit seinen eigenen Arbeiten konsequent gefolgt. Und sie hat über den Tod des Komponisten hinaus Bestand: Denn Hespos hinterlässt ein umfangreiches Schaffen, das aufgrund seiner Eigentümlichkeiten quer zu den Tendenzen unserer schnelllebigen Gegenwart steht – weil es die Grenzen akademisch geprägten Musizierens sprengt und die Funktionsmechanismen eines oftmals zum Konsumbetrieb gewordenen Musiklebens in Frage stellt. Die „Unmöglichkeiten“, die der Komponist zu erkunden suchte, warten also einmal mehr auf ihre „neuAndere“ Realisierung. Lassen wir uns von ihnen aufrütteln und dazu anregen, der in ihnen verborgenen „intensität weit-gedehnter gesänge“ (OP!, 1998) nachzuspüren.


Zum Nachhören:

  • Solo Works 69–96. Ensemble L’ART POUR L’ART. cpo 999 890-2 (2003)
  • „seiltanz. szenisches abenteuer“ (1982). Ensemble 13, Leitung: Manfred Reichert. cpo 999 245-2 (2004)
  • Musik zur Rekonstruktion und choreografischen Neufassung von „das triadische ballett“ von Oskar Schlemmer. Freies Ensemble, Leitung: Thomas Baldner, ACADEMY 0085232ACA (2008)
  • Kompositionen für Orgel und Cymbalom. Dominik Susteck (Orgel), Enikö Ginzery (Cymbalom). kreuzberg records kr 10135 (2019)

Zum Nachlesen:

  • Hans-Joachim Hespos: ..redeZeichen.. Texte zur Musik 1969–1999, hrsg. von Randolph Eichert und Stefan Fricke, Saarbrücken: Pfau 2000
  • Eva-Maria Houben: hespos – eine monographie, Saarbrücken: Pfau 2003
  • Tobias Daniel Reiser: Höre Hespos! Gespräche mit dem Komponisten Hans-Joachim Hespos, Berlin: Simon Verlag 2011
  • Stefan Drees: „kunst ist das gegenteil von verarmung“: Aspekte zum Schaffen von Hans-Joachim Hespos, Hofheim: Wolke 2018

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