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Standbild aus dem Feature „The Life and Death of Walter Benjamin“. Foto: Poorhouse International/tstofleth
Standbild aus dem Feature „The Life and Death of Walter Benjamin“. Foto: Poorhouse International/tstofleth
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Der diversifizierte Markt verlangt eine neue Kreativität

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Die Fachmesse „Avant Première“ in Berlin: Vom blühenden Geschäft mit Musikfilmen
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Jeden Februar findet in Berlin während der Berlinale die „Avant Premiè­re“ statt, eine vom Internationalen Musik- und Medienzentrum Wien (IMZ) ausgerichtete Fachmesse der Klassik-Musikfilmproduzenten, die hier während vier Tagen ihre Neuigkeiten präsentieren und verkaufen. Im Dialog mit den Vertrieben und Sendern entstehen die Programme, die der Zuschauer im Lauf der nächsten Jahre zu sehen bekommt. Das Treffen ist eine erstklassige Quelle der Information über die aktuellen Entwicklungen.

Mit schöner Regelmäßigkeit ist in den Medien zu hören, die Ton- und Bildtonträger wie CD und DVD stünden am Abgrund, das Musikgeschäft verlagere sich immer mehr in den Streamingbereich. Das stimmt insofern, als die Generation der „digital natives“ tatsächlich Smartphone und Computer der stationären Abspielanlage zu Hause und dem TV-Bildschirm vorzieht. Und der Trend gilt vor allem für den Popbereich, wo Mobile Music, die allgegenwärtige Verfügbarkeit und Mitnahme der Inhalte, an erster Stelle steht. Bei der Klassik ist es noch anders. Wer will in der Straßenbahn auf seinem iPhone eine Verdi-Oper sehen oder auch nur hören? Ein Minimum an Zeit und Ruhe ist noch immer unabdingbar, selbst wenn auch Klassik längst zu einer Angelegenheit des „Begleitradios“ geworden ist. Und beim Musikfilm geht es nun einmal nicht ohne Hinsetzen und Hinschauen.

Ein zweiter Megatrend ist die Verlagerung des Musikkonsums vom reinen Hören zur audiovisuellen Wahrnehmung. Darin unterscheidet sich der Klassikbereich nur graduell vom Pop. Immer mehr Konzerte werden  auch visuell aufgezeichnet, bei der Oper bietet sich das ohnehin an. Persönlichkeitsinterviews mit Interpreten sind beliebt, Proben- und Backstage-Aufnahmen bereichern die bloße Wiedergabe einer Aufführung, und trotz höherem Kostenfaktor gibt es immer wieder die Vermittlung von qualifiziertem Wissen über Werk und Interpretation durch gut gemachte Dokumentationen. Das Musikfilmgeschäft läuft, wenn auch mit ständigem Auf und Ab und ohne große Wellen zu schlagen. Der Markt expandiert in kleinen Schritten und in globalem Maßstab. Bei der vom IMZ Wien organisierten „Avant Première“ in Berlin, wo jährlich etwa drei Viertel des weltweiten Musikfilmkapitals in einem Saal versammelt sind, konnte man sich nun wieder davon überzeugen. Rund 500 Neuproduktionen wurden diesmal vorgestellt und vermarktet, Tendenz steigend.

Eine Opernaufnahme mit allen Produktionskosten und Rechten ist heute kaum unter dreihunderttausend Euro zu haben. Das Geld zur Finanzierung von so aufwändigen Produktionen  lässt sich durch eine einmalige TV-Sendung und einen DVD-Verkauf natürlich nie hereinholen. Es kommt woanders her: Neben der Kooperation mit mehreren Sendern ist dies heute zunehmend der Vertrieb in den weltweiten Satelliten- und Kabelkanälen. Da läppert sich einiges zusammen. Die Vertriebsnetze sind in den letzten Jahren sprunghaft gewachsen, und da dies in jedem Land nach anderen kommerziellen Gesichtspunkten und mit vielen unterschiedlichen Anbietern geschieht, nimmt der Markt mehr und mehr Züge eines extrem verästelten Netzwerks an. Wer sich darin nicht auskennt, bleibt auf dem begrenzten heimischen Markt sitzen wie etwa die italienische RAI, die unverdrossen die neuen Opernproduktionen aus Mailand, Venedig oder Rom, konventionell und mit allem zugehörigen Prunk produziert und anbietet. Die Wirkung dieser Art von durchschnittlicher europäischer Exotik in Fernost dürfte sich in Grenzen  halten. Eine paradoxe Entwicklung scheint sich anzubahnen; als Gegenbewegung zur medialen Globalisierung scheinen viele Fernsehanstalten wieder auf den eigenen Markt fixiert zu sein.

Ein Unternehmen wie die Münchner Unitel, die auf einem riesigen Schatz von Musikfilmen von den frühen Karajan-Zeiten bis heute sitzt, muss in der Lage sein, alle diese verästelten Kanäle zu erreichen, wie Thomas Hieber, Head of Business and Legal Affairs von Unitel Classica, erläutert: „Es gibt nicht mehr die zwei Kunden, mit denen man eine Produktion finanziert. Die Welt ist komplizierter und diversifizierter geworden. Es funktioniert nur noch, wenn man ständig kreativ bleibt.“ Zu den jüngsten Aktivitäten von Unitel gehört das Video-on-demand-Portal fidelio, ein Joint Venture mit dem ORF Wien, wo man als Abonnent Opern und Konzerte in HD-Qualität anschauen kann, und eine neue Partnerschaft  mit Vertragspartnern in Kanada. Einzelproduktionen und Pakete werden wie bisher an die öffentlich-rechtlichen Anstalten oder neuerdings auch Sky Arts verkauft, und bei Arte stehen auf der Internetseite Arte Concert regelmäßig ganze Unitel-Serien. Die Verträge sind von Fall zu Fall anders. „Wir freuen uns über jede neue Möglichkeit“, sagt Hieber, „das bringt einfach die Performing Arts näher an das Publikum heran.“

Gehört noch nicht zum alten Eisen: die DVD

Aber wie steht es eigentlich mit der DVD und ihrem Nachfolgemedium, der Blu-ray Disc (BD)? Sie ist das Medium, an das der normale Klassikkonsument als erstes denkt, wenn von Musikfilmen die Rede ist. Als die DVD um 1997 auf den Markt kam, nahm interessanterweise die Klassik eine Pionierrolle ein, übrigens genauso wie bei der Einführung der CD; Rock und Pop eroberten das Medium später. Im Laufe eines Jahrzehnts stiegen die Verkaufszahlen steil nach oben, aber mit dem Aufkommen von Smartphone und Streaming kam der ebenso steile Rückgang. „Heute verkaufe ich noch einige tausend Exemp­lare pro Titel“, sagt Ben Pateman, Chef des gut eingeführten Klassiklabels Opus Arte. „Aber das genügt mir, ich schreibe schwarze Zahlen.“ Opus Arte wurde zu Beginn der DVD-Ära vom Holländer Hans Petri als Qualitätslabel für Oper und Konzert gegründet und ein Jahrzehnt später an das Royal Opera House verkauft, das damit seine eigene Medienstrategie begründete. Heute ist das ROH auch im weltweiten Streaminggeschäft engagiert und konkurrenziert hier andere große Häuser wie die Met, die Scala, die Wiener Staatsoper oder die Opéra Paris. Für Opus Arte ist die Situa­tion insofern etwas leichter als bei freien Labels, als es zumeist – nicht ausschließlich – auf das Repertoire des eigenen Hauses zurückgreift, was die Frage der Rechte schon einmal entschieden vereinfacht und auch die Suche nach Koproduzenten großenteils erübrigt. „Wir bedienen den sogenannten Boutique-Markt“, erläutert Pateman sein Geschäftsmodell. „Unsere Kunden sind wohlhabend, gebildet und anspruchsvoll und haben zu Hause ihre High-End-Anlage. Sie erwarten ein gut ediertes Qualitätsprodukt mit soliden Begleitinformationen und sind dann auch bereit, Premiumpreise zu zahlen. Sie schreiben zwar E-Mails, sind aber an den digitalen Medien nicht weiter interessiert, denn sie brauchen sie nicht.“ Das Alter der Kunden von 60 Jahren und mehr macht Pateman keine Sorgen. „Das ist ein absolut treues Publikumssegment, und es wachsen laufend neue Sechzigjährige heran.“ Irgendwann wird auch die DVD das Zeitliche segnen, darüber macht er sich keine Illusionen. Aber in die Totengesänge kann er nicht einstimmen. Er gibt dem Medium noch mindestens fünf bis zehn Jahre, bis es endgültig vom HD-Streaming verdrängt sein wird. Er bedauert allerdings dass die Blu-ray nicht die Nachfolge der DVD antreten konnte; sie sei etwas zu spät am Markt erschienen, als schon das HD-Streaming in den Startlöchern stand.

Das problematische Doppelpack DVD/Blu-ray

Das in Leipzig beheimatete Label Accentus hat ein ähnlichen Premiumprofil; doch als freies Produktionsunternehmen ist es auf Koproduktionen angewiesen. Auch für Accentus-Chef Paul Smaczny hat die DVD ihre fetten Jahre hinter sich. „Das Geschäft ist auch deswegen schwierig geworden, weil man neben der DVD stets noch die BD mitproduzieren muss, was die Herstellungskosten verdoppelt“, sagt er. „Das Publikum in Europa ist merkwürdigerweise nie richtig auf die neuen Blu-ray-Player umgestiegen, obwohl jeder seinen HD-Fernseher zu Hause hat. Umgekehrt werden von den technikaffinen Kunden in Japan oder Südkorea nur noch BDs gekauft.“

Konnten in den Nullerjahren noch leicht 30.000 Exemplare eines DVD-Titels abgesetzt werden, so ist nun seit einigen Jahren die Kannibalisierung durch die Videoportale im Gang. Sie bieten Streaming heute auch in DVD-Qualität an, etwa Netflix, das innerhalb von zehn Jahren weltweit einen Stamm von 93 Millionen Abonnenten aufgebaut hat, oder neuerdings eben auch ORF Fidelio oder Maxdome, ein Videoportal von ProSiebenSat.1 Media. Smaczny reagierte auf diese Marktveränderungen mit einer Konzentration auf die Inhalte und einer Schärfung des Profils: keine ziellosen Einzelproduktionen, sondern Serien und eine klare Programmatik; nicht die x-te prominent besetzte „Bohème“, sondern kontinuierliche Zusammenarbeit mit namhaften Partnern. Beim Lucerne Festival hat Accentus alle Mahler-Sinfonien mit Abbado aufgenommen und die Aufnahmen nun mit Chailly fortgesetzt. Auch das Gewandhaus ist eine feste Adresse, und mit Zubin Mehta ist eine neue Porträtserie unterwegs. Heute veröffent­licht das Label rund zehn Titel pro Jahr, neuerdings auch dieselbe Anzahl von CDs, alles hauseigene Produktionen.

Erfreulich viele Dokumentarfilme in Berlin vorgestellt

Nach Auskunft von Smaczny lassen sich hochwertige Dokumentationen heute besser verkaufen als früher, und er nennt das berührende Porträt der chinesischen Bach-Interpretin Zhu ­Xiao-Mei. Überhaupt Dokumentationen: Bei der Berliner Avant-Première wurden erfreulich viele vorgestellt, sogar solche über zeitgenössische Musik, was finanziell immer ein Risiko darstellt. Dazu gehören eine mit viel unveröffentlichtem Material versehene Dokumentation über Pierre Boulez oder das einstündige Feature „The Life and Death of Walter Benjamin“, das sich um die in Lyon uraufgeführte Oper „Benjamin. Dernière Nuit“ von Michel Tabachnik rankt. Der Librettist, kein Geringerer als der Kolonialismuskritiker und Ex-Guerillakämpfer Régis Debray, kommt vor der Kamera ausführlich über den Philosophen zu Wort.Die DVD und ihr Nachfolgemedium BD haben zweifellos ihre besten Zeiten hinter sich, doch falls sie auch solche Produktionen, die zunächst einmal als Film auf den Markt kommen, noch stemmen sollten, hätten sie ihre Daseinsberechtigung noch lange nicht verspielt. 

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