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Verabschiedung der Materialität: das Musikhaus Bading in Berlin-Neukölln, an Silvester abgebrannt. Foto: Martin Hufner
Verabschiedung der Materialität: das Musikhaus Bading in Berlin-Neukölln, an Silvester abgebrannt. Foto: Martin Hufner
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Der große Pan ist tot!

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Nachschlag 2018/09
Publikationsdatum
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Nun ist der Kipppunkt erreicht, und der Balken der Waage hebt das Gewohnte in die Höhe und hin zu den Sphären der Bedeutungslosigkeit. Noch nicht ganz, aber sehr bald! Worum es geht? Um den physischen Musikkonsum und zuweilen auch -genuss. Laut dem jüngst veröffentlichten Halbjahresreport 2018 des Bundesverbandes der Musikindustrie (Link) hat die digitale Musiknutzung zum ersten Mal den Musikerwerb vermittels materialer Träger überholt: 58,9 Prozent zu 41,1 Prozent.

Dramatisch weil schier exponentiell dabei das Wachstum bzw. der Schwund beim Audio-Streaming beziehungsweise der CD. Konnte Ersteres im Vergleich zum Vorjahr um sagenhafte 35,2 Prozent zulegen, brach der Umsatz bei den CDs um rund ein Viertel ein. Der Streaming-Anteil liegt nun bei 47,8 Prozent, der von CDs bei 34,4 Prozent. Und um den weiteren Verlauf dieser Kurven muss man sich keine Gedanken machen, allein schon weil es zurzeit auf der Welt auch mehr Mobilfunkverträge als Menschen gibt. Die Marktmacht der digital generierten Masse wird auch noch den letzten local dealern, Versandhändlern und CD-Laufwerken locker den Garaus machen – und bestenfalls umhegte, zarte Biotope wie Vinyl zulassen. Die Musik jedoch, die alle Welt meint, heißt das, wird nimmermehr auf materialen Trägern existieren, in wahrnehmbaren Zeiten und Räumen, sondern auf fernen Servern als binär codiertes Zahlenmaterial, überall und jederzeit abrufbar zum Nutzen und Frommen von Anbietern unterschiedlichster Art. Hörer? Musiker? Alles nur Kunden!

Auch die CD, die nun rasend schnell ihrem Untergang entgegensieht, war nur ein Kapitel in dieser von technologischer Beschleunigung, Gewinnmaximierung und Expropriation geschriebenen Geschichte, mit Karajan, Sony et al. als Randfiguren. Eine Epoche von 30, 40 Jahren, die diesen Tonträger hervorbrachte, dem nicht nur seiner entsetzlichen Verpackung wegen nun einigermaßen wenige Tränen nachgeweint werden. Zwar speicherte die CD die Musik auch digital ab, aber in ihrer schieren Materialität, in ihrer fragilen Unhandlichkeit hatte sie dann doch noch Teil an dem, was uns und die Musik verbindet: die Physik, das Schwingen realer Teilchen oder meinetwegen das Analogsein. Ihre Stofflichkeit, eine in Polycarbonat eingeschweißte Aluminiumschicht, verwies noch als letzter irdischer Rest auf die Jahrtausende alte Materialität aller Musik, darauf, dass um sie hervorzubringen, aus allerlei Material geschnitzt, gebohrt, gedrechselt, gegerbt, gezogen und gedreht werden muss, dass Luftsäulen, Saiten oder Membranen zum Schwingen zu bringen sind, und zwar immer wieder und weiter, weil sie schlicht verklingt und die Schallwellen verhallen. Um sie zu bekommen, war Arbeit nötig, Körper und Atem, und Menschen inmitten dieses kunstvollen Spiels von Werk und Wirkung.

Die Verabschiedung der Materialität in der Musik bekommen die einzelnen Musiker zuallererst zu spüren: Dank Spotify und anderen wird ihre Arbeit immer mehr entwertet. Doch auch die Institutionen der analogen Musikpflege sollten sich keine falschen Hoffnungen machen über die Segnungen der Digitalisierung. Das von dieser implementierte Musikmachen und -hören hat nichts mit denjenigen zu tun, von welchen sie profitierten. Sie zehrten so vor allem von der stets wieder entflammten und nie zu stillenden Sehnsucht das alten Bocks Pan. Dieser, weil er die Nymphe Syrinx nicht bekam und sie in Schilf verwandelt wurde, fertigte sich aus dem Schilfrohr eine Flöte – als griechische Sagengestalt war er natürlich mit den Fundamenten von Mensur und Intonation bestens vertraut –, die er an heißen, trägen Nachmittagen spielte und die unbewegte Luft füllte mit der Beschwörung von Syrinx wie seiner eigenen Sehnsucht. Diese einmalige Erregung in Werk und Wirkung, die nur um den Preis der proaktiven Wiederholung zu haben war, ist online andauernd zu haben. Immer mehr und mehr, Erregung allüberall bei null Aktivität. Pan? Schilf??... War da was? Da ist nichts. „Der grosse Pan ist todt: so klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt: die Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen!“ (Nietzsche)

 

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