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Ungebrochene Spontaneität: Szene aus Moritz Eggerts Oper „All diese Tage“. Foto: Mara Eggert
Ungebrochene Spontaneität: Szene aus Moritz Eggerts Oper „All diese Tage“. Foto: Mara Eggert
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Des Alltags großer Auftritt als Oper

Untertitel
„All diese Tage“: Moritz Eggert erzählt in Bremen von und mit Jugendlichen eine „Zeitoper“
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Es ist richtig was los auf der Bühne: Über 100 Menschen wuseln da ebenso ungeordnet wie natürlich höchst geordnet herum und erzählen dem Opernpublikum etwas über heutigen Alltag: „All diese Tage“ ist ein Auftragswerk des Theaters Bremen an den 1965 geborenen Komponisten Moritz Eggert und das originelle Werk wurde jetzt auch dort uraufgeführt.

„Zeitoper“ heißt der Untertitel, aber auch dieser schon um 1920 geprägte Begriff bezeichnet nur ungefähr das, was da klingt und geschieht. Eggert hat schon immer mit verstörenden Experimenten nach einer neuen Kommunikation mit dem Publikum gesucht, zum Beispiel mit einem Fußballoratorium für die WM 2006 und einem Fußballballett zum Wiener Opernball 2008, wo das Tanzparkett zum Fußballfeld umgebaut wurde. In seinem elften Bühnenwerk hat er nun die Idee verwirklicht, den Alltag Jugendlicher in die Oper zu bringen oder auch umgekehrt die Oper in deren Alltag. Mit der spezifischen kompositorischen Montagetechnik, über die Eggert mit einer Souveränität ohnegleichen zu verfügen scheint, ist ein spannungsvoller und unterhaltsamer Abend entstanden, der allerdings in seinem Grundgestus auch traurig ist. 

Denn der Alltag Jugendlicher wird nach deren Erzählungen auf die Bühne gebracht, jedoch nicht nur das, sondern auch die Kinder und Jugendlichen selbst sind die auftretenden Protagonisten. 35 Rhythmusperformer/-innen und 30 Sänger/-innen bevölkern mit ihren Ansichten die Bühne, auf der 14 unzusammenhängende Bilder abgehandelt werden. Bilder der Realität des zeitgenössischen Alltags, Erzählungen von Bremer Jugendlichen, aus denen Andrea Heuser ein kontrastreiches Libretto gebaut hat: ein Junge, der 123 Freunde auf Facebook hat, wird ausgegrenzt, weil es ihn nicht gibt (wird so einfach behauptet). Julian baut lautstark ein Baumhaus und stört das sonntägliche Ausschlafen. Josefine träumt die Feier einer russischen Großfamilie, der Kleine wird mit zur Putzarbeit der Mutter genommen, weil niemand auf ihn aufpassen kann. Drei Mädchen möchten gerne schöner, schlanker und cooler sein. Ein Junge muss einschlafen – was er noch nicht will –, damit er die teuer gebuchten Förderangebote der Eltern ausgeruht wahrnehmen kann. Von Fastfood, Nachtschicht, Wellness, Tatort und Bierchen ist die Rede, der Daumen nach oben von „gefällt mir“ ist präsent.

Das ist präsentiert in der traditionellen Form der Oper mit Solisten, Chor und Orchester – dazu gibt’s dann noch Akkordeon, E-Gitarre, E-Bass, ein großes Schlaginstrumentarium und Sampler für vorproduzierte Sounds.Mit dieser Spannung, auch der stilistischen, wenn zum Beispiel der originale Erzähltext einer 15-Jährigen in großem Gesangsstil zelebriert wird, arbeitet Eggert und erzeugt eine subtile Ironie. Und der Regisseur Michael Talke hat sich stark inspirieren lassen von der ungebrochenen Spontaneität der Jugendlichen. Dass er das zusammen mit dem Dirigenten Florian Ziemen das über sieben Wochen Proben geschafft hat, ist unfassbar großartig, denn umgekehrt sind die arg strapazierten Jugendlichen, die auch eine nie gekannte Disziplin an den Tag legen mussten, durchgehend begeistert dabei. 

Eggerts quirlige Musiksprache bewegt sich in vielen Stilen, ist durch und durch bewusst eklektizistisch, muss sie sein: denn sie entspricht der zerreißenden Heterogenität unseres Alltags, den „man überstehen muss“. Das ist das positive Ende, das Heuser, Eggert und Talke ohne jegliche Affirmativität überbringen. Eggert und der Bremer Aufführung gelingt der Spagat, Jugendliche mit der Oper zu konfrontieren, die in ihrem Alltag so gar keine Rolle spielt und sogar mehr als das: sie werden die Hauptrollen. Ob sie sich von da aus mal in wirkliche Opern begeben, weiß man nicht, aber es ist vorstellbar. Und noch etwas: Jeder von diesen Jugendlichen lockt Familienmitglieder in die Vorstellung, die ebenfalls noch kein Opernhaus betreten haben. 

Ungemein engagiert und einfühlsam werden die Jugendlichen, die besonders in einer Rhythmusszene mit Trampeln und Klatschen Mitreißendes leisten, vom „echten“ Opernchor mit vielen Aufgaben, weiter von den „Profis“ Alexandra Scherrmann, Benjamin Boresch, Barbara Buffy, Sirin Kilic, Keija Xiong, Martin Kronthaler, Christoph Heinrich und Tamara Klivadenko temperamentvoll unterstützt. Viel Beifall.  

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