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Verlegerfamilie in der 2. und 3. Generation (v.li.): Clemens Scheuch, Leonhard Scheuch und Barbara Scheuch-Vötterle
Verlegerfamilie in der 2. und 3. Generation (v.li.): Clemens Scheuch, Leonhard Scheuch und Barbara Scheuch-Vötterle
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Die Weichen für die Zukunft stellt die junge Generation

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Die Kasseler Musikverlegerfamilie Scheuch-Vötterle im Gespräch mit der neuen musikzeitung
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Barbara Scheuch-Vötterle beging am 27. November 2012 ihren 65. Geburtstag, Leonhard Scheuch wird am 21. Mai 2013 75 Jahre alt. Der Verlag Bärenreiter begeht 2013 seinen 90. Geburtstag, die beiden Verleger leiten das Haus seit nunmehr 37 Jahren gemeinsam. Ihr 33 Jahre alter Sohn Clemens Scheuch ist seit dem 23. Februar 2011 Mitglied der Geschäftsleitung des Kasseler Musikverlagshauses. Alle drei trafen sich kürzlich zum gemeinsamen Gespräch mit Chefredakteur Andreas Kolb von der nmz über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verlagshauses Bärenreiter.

neue musikzeitung: Liebe Frau Scheuch-Vötterle, Sie haben viel mit Ihrem Vater Karl Vötterle über die Zeit nach Kriegsende gesprochen. Was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Barbara Scheuch-Vötterle: Bei dem letzten alliierten Luftangriff auf Kassel im März 1945 wurden der Verlag, das Wohnhaus, die Druckmaschinen, die Papiervorräte, die Druckvorlagen und auch viele Manuskripte vernichtet. In den Kriegsjahren verlor mein Vater auch seine erste Frau und stand mit vier Kindern allein da. So mancher wäre daran verzweifelt, aber links und rechts sah es nicht besser aus. Mein Vater hatte während der NS-Zeit Berufsverbot, weil er sich für die evangelische Kirchenmusik einsetzte. So entstand der Gedanke, mit dem Verlag nach Basel zu ziehen. Dank der Hilfe von Basler Freunden, darunter auch Paul Sacher, gründete er 1944 „Bärenreiter Basel“. Nach Kriegsende war der Verlag für die Mitarbeiter vor allem eine Art Ersatzfamilie, hatten doch auch sie Haus und teilweise Familie verloren. Deshalb entschied er sich, nicht nach Basel zu gehen.

Bärenreiter und Kassel

nmz: Bärenreiter entschied sich für Kassel als Standort. Wie kennt, wie schätzt man hier den Verlag?

Barbara Scheuch-Vötterle: Natürlich haben wir engste Verbindungen zu den Veranstaltern und Institutionen, die hier in Kassel etwas mit Musik zu tun haben, zum Beispiel zum Staatstheater, zu Kammermusikensembles oder den Kasseler Musiktagen.

nmz: Herr Scheuch, Sie stammen aus der Schweiz. Sind Sie heimisch geworden in Kassel?

Leonhard Scheuch: Ja, wenn man die Hälfte seines Lebens irgendwo verbringt, dann wird man heimisch. Meine Schweizer Wurzeln habe ich aber nicht verloren. Und noch eine „neue Liebe“ habe ich gefunden, und das ist Prag, wo Bärenreiter seit 1991 mit einem eigenständigen Verlag tätig ist. Ich habe vorwiegend in Wien Theaterwissenschaft studiert, bereits mit 17, 18 Jahren waren die Berufswahl und der Studienort für mich klar. Meine tschechische Affinität habe ich dort durch eine Reihe von „Jenůfa“-Aufführungen entdeckt. Im nächsten Jahr sind es genau 50 Jahre seit meiner ersten Begegnung mit der „Jenůfa“-Inszenierung von Otto Schenk. Das war meine Brücke nach Brünn und zu Janáček. Während des Kalten Krieges war es nicht ohne weiteres möglich, in die Tschechoslowakei zu reisen, aber als Schweizer hatte ich es einfacher. Eine Theaterwissenschaftlerin aus Brünn sandte mir eine Einladung, und so kam ich privat unter bei der Familie Štědroň. Bohumír Štědroň  war einer der großen Janácek-Wissenschaftler, sein Neffe Miloš Štědroň hat damals studiert und ist Mitherausgeber der Janáček-Gesamtausgabe: Mit ihm verbindet mich bis heute eine enge Freundschaft. Beide seiner Kinder waren auch eine Zeit lang hier in Kassel. Später, 1974, während eines Festivals in Brünn, lernte ich bei einem Ausflug nach Litomyšl, dem Geburtsort Smetanas, meine Frau kennen.

Barbara Scheuch-Vötterle: Schon mein Vater hatte eine starke Affinität zur damaligen Tschechoslowakei, zur Musik und zur Kultur des Landes. Sein Startkapital für seinen jungen Verlag waren 1923 70 tschechische Kronen, die damals wertvoller waren als die Reichsmark. Als mein Vater und ich 1974 zu Besuch bei einem alten Freund meines Vaters, dem Komponisten Ján Cikker, in Bratislava waren, fuhren wir anschließend nach Brünn zum Janáček-Festival. Bei diesem Ausflug kamen mein Mann und ich in Litomyšl ins Gespräch. Er bemerkte, dass die Tschechen ein heiratsfreudiges Volk seien, woraufhin ich ihm entgegnete, „man muss ja nicht gleich heiraten“. Aber schon im Sommer 1975 haben wir geheiratet …

nmz: Cherchez la femme, könnte man sagen: Wie Ihr Vater im Jahr 1927, kam auch ihr Mann, Leonhard Scheuch, 1975 nach Kassel.

Barbara Scheuch-Vötterle: Die erste Frau meines Vaters stammte aus Kassel und er ist deswegen von Augsburg nach Kassel gezogen. Der damalige Oberbürgermeister bot ihm ein Gründerdarlehen für seinen Verlag an. Sein Schwiegervater besaß ein Haus an der heutigen Heinrich-Schütz-Allee. Sie haben Recht, sowohl für meinen Vater als auch für meinen Mann war es eine Herzenssache, nach Kassel zu kommen.

nmz: Leonhard Scheuch, erzählen Sie unseren Lesern doch von Ihren Anfangszeiten im Verlag.

Leonhard Scheuch: Mein Vorteil war, dass ich das Angebot des Bärenreiter-Verlags von der Kundenseite her kannte. Ich war Dramaturg am Opernhaus Zürich und der Intendant Claus Helmut Drese meinte zu mir: „Dramaturg ist keine Lebensstellung, entweder wird man Regisseur oder Intendant, mit 40 muss das entschieden sein.“ Drese stellte damals mit Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle einen wegweisenden Monteverdi-Zyklus auf die Beine. Es war eine interessante Zeit für mich, aber dann ist mir diese Dame dazwischengekommen, und es stand die Entscheidung an, ob ich weiter in der Dramaturgie verbleibe und später als Intendant arbeite – dann wäre ich jetzt seit zehn Jahren pensioniert – oder ins Musikverlagsgeschäft wechsle.

Barbara Scheuch-Vötterle: Hier ins kalte Wasser zu springen, war nicht ganz einfach, es waren turbulente Zeiten. Wir mussten erst zehn harte Jahre lang alte, verkrustete Strukturen aufbrechen. Neben diversen Verlagen der Bärenreiter-Gruppe hatten wir noch den technischen Betrieb im Haus, der sich allein mit der Verlagsproduktion nicht rechnete und daher zusätzlich Fremdaufträge einholen musste. Dadurch geriet aber die eigene Produktion in den Hintergrund. Bei den alten Führungskräften hatten wir beide einen schwierigen Stand, unterstützt wurde mein Mann damals nur von Bernd Bosse vom Gustav Bosse Verlag Regensburg, der uns bei der Neustrukturierung des Verlages sehr geholfen hat und dem wir noch heute freundschaftlich verbunden sind. Wir stellten den technischen Betrieb ein und konzentrierten uns allein auf die Kernbereiche eines Musikverlages.

Leonhard Scheuch: Mein Schwiegervater Karl Vötterle war daran interessiert, den Verlag auf breiter Basis auszubauen. Dazu zählte etwa auch der Schauspielbereich, der nach dem Krieg ein Verlagsengagement mit tschechischen Autoren ermöglichte. Junge Schriftsteller, die dort nicht mehr veröffentlicht werden durften, sind dann bei uns gelandet, wie zum Beispiel Pavel Kohout, Ivan Klima und Milan Uhde.

Bärenreiter und Prag

Barbara Scheuch-Vötterle: Wir hatten bereits die Subverlagsvertretung für die tschechoslowakischen Staatsverlage im Musikbereich. Das Engagement für diese Autoren war eine gewaltige politische Belastung. Mein Vater wurde in Prag vor die Wahl gestellt, sich entweder von den Schriftstellern zu trennen oder die Verträge im Musikbereich zu verlieren. Aber er blieb stur und stand zu seinen Autoren. Auch die Probleme mit der DDR bei den Gesamtausgaben für Bach und Händel sind erwähnenswert: Angewiesen auf die west- und ostdeutschen Institute, funktionierte der Kontakt zwischen Ost und West in der Musikwissenschaft weitaus früher als in der Politik. In Leipzig gab es schon seit langer Zeit ausgezeichnete Notenstecher, was für uns natürlich sehr attraktiv war. Das Papier lieferten wir. Die Wissenschaft arbeitete sehr früh sehr gut zusammen, und mein Vater hat dafür gesorgt, dass der Deutsche Verlag für Musik in Leipzig gegründet wurde, um die Gesamtausgaben gemeinsam verlegen zu können. Mit der Planung der Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ (MGG) vor Ausbruch und der Umsetzung mit Hans Albrecht, Friedrich Blume und Anna Amalie Abert nach Ende des Krieges besetzte er eine Marktlücke zu einer Zeit, in der ihm andere Verlage eine Realisierung nicht zutrauten.

nmz: Clemens Scheuch, Sie vertreten in unserem Gespräch die dritte Verlegergeneration des Hauses Bärenreiter. Haben sie als Kind schon am Frühstückstisch Ihrer Eltern Verlagsentscheidungen miterlebt?

Clemens Scheuch: In jungen Jahren begreift man den Beruf des Verlegers nicht so leicht. Und generell waren Firmenthemen am Familientisch nicht präsent. Aber die Komponisten und Musiker, die bei uns ein- und ausgingen, waren für mich als Kind stets faszinierend.

Barbara Scheuch-Vötterle: Solche Eindrücke habe ich auch aus meinem Elternhaus. Ein Paul Hindemith, Ernst Pepping oder Ernst Krenek waren für mich als Kind bereits beeindruckende Persönlichkeiten. Wie mein Vater haben dann auch mein Mann und ich unsere Komponisten mit in die Familie integriert. Sie können solche Gespräche nicht im Büro führen.

nmz: Einer Ihrer Komponisten, Ernst Krenek, erklärte einmal in einem Essay, warum das Verhältnis zwischen Verleger und Komponist so kompliziert sei: „Weil unter den gegebenen Umständen der Verleger den Komponisten überhaupt nicht oder höchstens vergleichsweise zufriedenstellen kann. Das liegt daran, dass die Neue Musik sich im offenen Handel – also durch den Vertrieb von gedruckten Exemplaren oder durch den Verkauf von Eintrittskarten zu den Aufführungen nicht bezahlt macht. (...) So ist die neue Musik auf Subsidien angewiesen, und diese gehen vor allem von den Individuen und Institutionen aus, die Kompositionsaufträge erteilen.“ (FORUM Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit, 9. Jahr, Heft 100, Wien, April 1962). Inwieweit sind Sie als Verleger mäzenatisch tätig?

Bärenreiter digital

Barbara Scheuch-Vötterle: Sie sind natürlich als Verleger ein Mäzen für Komponisten im Bereich Neue Musik und deswegen ist gerade die persönliche Bindung wichtig. Wir arbeiten nur mit Komponisten zusammen, mit denen wir auch menschlich gut zurechtkommen. Es ist die Verpflichtung eines Verlegers, einen Teil des Ertrags wieder in die Förderung zeitgenössischer Komponisten zu stecken.

nmz: Welche Weichen muss man stellen, damit ein Verlag heute gut aufgestellt ist?

Clemens Scheuch: Viele Rahmenbedingungen haben sich verändert. Nehmen wir nur die öffentliche Meinung zum Urheberrecht, die schrumpfende Handelslandschaft sowie die Herrschaft des Rotstifts im Kulturbetrieb. Die Frage ist auch, inwieweit man sich vom Papier lösen muss und ob digitale und Printmedien nicht parallel bestehen können. Wichtig ist es, nicht nur diese Entwicklungen zu beobachten, sondern neue Möglichkeiten zu finden oder sich an bestehende Plattformen anzuschließen. Das alles ist natürlich mit Investitionen verbunden, die, ähnlich wie bei der Neuen Musik, nur durch das Papiergeschäft finanziert werden müssen.

nmz: Wo erreicht man das meiste Publikum mit den neuen Medien, ist es die Chormusik, eine Ihrer ersten Sparten, oder doch etwas anderes?

Clemens Scheuch: Es gibt keine feste Reihenfolge, man muss alle Bereiche und Ressourcen prüfen, dabei das Papiergeschäft aber möglichst nicht schädigen.

nmz: Wie sind Sie international aufgestellt?

Barbara Scheuch-Vötterle: Eine Oper wie zum Beispiel „Don Giovanni“ kann gleichermaßen in New York, München oder Tokio gespielt werden. Als Musikverlag sind wir gegenüber den Buchverlagen im Vorteil – wir brauchen keine Übersetzungen, die Musik ist eine internationale Sprache.

Clemens Scheuch: Für den Kaufbereich haben wir beim Umsatz mittlerweile ein 50-50-Verhältnis erreicht. Im Hinblick auf die einzelnen Programmbereiche ist die Verteilung sehr unterschiedlich, im Ausland sind unsere Urtext-Ausgaben, also die wissenschaftlich-kritischen Editionen, begehrt, im Inland liegt der Schwerpunkt eher im Bereich der Spielliteratur, der musikalischen Ausbildung und der Früherziehung. In Asien besteht ein großes Interesse an den Klassikern. Den größten Absatz unserer Faksimiles erreichen wir in Japan …

nmz: Noch ein paar Worte zu Bärenreiter Prag: Wie steht es mit der Leidenschaft von Bärenreiter für tschechische Musik?

Leonhard Scheuch: Die Leidenschaft ist ungebrochen! Die Janáček-Gesamtausgabe, die wir 1978 gemeinsam mit Supraphon begonnen und im weiteren Verlauf Dank der Gründung unseres Verlages in Prag allein weitergeführt haben, ist zwar noch nicht abgeschlossen, doch ein Großteil der wichtigen Werke ist erschienen. Im vergangenen Jahr haben wir eine kritische Neuausgabe der Oper „Osud“ („Schicksal“) herausgegeben, die schon in Stuttgart und Brünn genutzt wurde. Eine kritische Dvorák-  Gesamtausgabe wäre auch noch ein wichtiges Projekt gewesen, das hatten wir uns in den neunziger Jahren zusammen mit der Prager Akademie der Wissenschaften vorgenommen. Leider steht das Projekt im Moment still. Viele Lücken im tschechischen Musikrepertoire konnten wir in den vergangenen Jahren bereits schließen, und es bieten sich darüber hinaus noch viele andere Möglichkeiten.

Barbara Scheuch-Vötterle: Auch im Bereich der tschechischen Musikpädagogik sind wir mit den Ausgaben von Bärenreiter Praha sehr erfolgreich.

Leonhard Scheuch: Auch im Leihbereich konnten wir in Prag große Erfolge erzielen. Mittlerweile liefern wir dort auch andere große Verlage, wie Schott oder Boosey, aus.

nmz: Gibt es weitere Kooperationen?

Barbara Scheuch-Vötterle: Wir arbeiten bereits seit 1971 mit dtv zusammen. Gemeinsam mit J.B. Metzler haben wir nicht nur die neue MGG herausgegeben, sondern auch eine Reihe bedeutender Publikationen wie beispielsweise unsere Reihe der Komponistenhandbücher. Schon 2012 kam zum Beispiel das „Wagner-Handbuch“ heraus. In den Bereichen Opernführer, Ausbildungsliteratur und Künstlerbücher arbeiten wir seit 2012 mit dem Henschel-Verlag in Leipzig zusammen. Darüber hinaus kooperieren wir mit vielen musikwissenschaftlichen Instituten.

nmz: Die Musikmesse in Frankfurt steht vor der Tür: Lohnt sich der klassische Messeauftritt heute noch für einen Verlag?

Leonhard Scheuch: Was die Messe betrifft: Jeder in der Branche stellt sich vor und nach der Messe die Frage, ob sich das Ganze überhaupt noch lohnt. Es möchte nur keiner den Anfang machen …

Clemens Scheuch: Sinn und Zweck der Musikmesse in Frankfurt sind durchaus fraglich: Für das Erreichen der Endkunden brauchen wir diesen riesigen Messeapparat eigentlich nicht. Auch sind die Zeiten der großen Messeaufträge vorbei. Internationale und nationale Kontakte pflegt man ohnehin das ganze Jahr über, mittels Vertriebsreisen, Vorschauen, Mailings und persönlichem Kontakt.
Vor Ort erschwert vor allem die nur noch auf dem Papier existente Trennung zwischen Fachbesucher- und Endkundentagen die Gespräche mit den Händlern. Um die Endkunden zu erreichen, ist die Leipziger Buchmesse für uns die bessere Plattform. Von Anfang an wurden die Musikverlage dort auch mit offenen Armen empfangen.

Zur diesjährigen Frankfurter Musikmesse haben wir neben unseren Neuerscheinungen aber noch zwei weitere Highlights vorbereitet. Zum einen werden wir eine neue Imagekampagne starten, die den Wert und die Bedeutung unserer Urtext-Ausgaben aufzeigen wird. Zum anderen werden wir unsere ersten digitalen Projekte präsentieren. 

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