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Knall, Getöse, Blitz und Splitter, Riss und Glanz

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Stuttgarts „Eclat“-Festival für Neue Musik im Jahre 2001 – Siebzehn Uraufführungen in dreizehn Konzerten
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Spricht der Musikinteressierte von Donaueschingen oder Witten, weiß das musikalische Gegenüber, was gemeint ist: die Tage Neuer Musik, die sich mit den beiden Städtenamen verbinden. Sagt der Musikfreund „Stuttgart“, weiß der Musik-Gesprächspartner nicht unbedingt, worauf er den Ortsnamen beziehen soll. Vielleicht auf das dreimal als „Oper des Jahres“ ausgezeichnete Musiktheater? Oder auf das berühmte Ballett?

Spricht der Musikinteressierte von Donaueschingen oder Witten, weiß das musikalische Gegenüber, was gemeint ist: die Tage Neuer Musik, die sich mit den beiden Städtenamen verbinden. Sagt der Musikfreund „Stuttgart“, weiß der Musik-Gesprächspartner nicht unbedingt, worauf er den Ortsnamen beziehen soll. Vielleicht auf das dreimal als „Oper des Jahres“ ausgezeichnete Musiktheater? Oder auf das berühmte Ballett?Die „Tage für Neue Musik Stuttgart“ führten neben den im Sonnenlicht glänzenden Instituten ein fast bescheidenes Schattendasein, und auch die Avantgarde-Apologeten, die Jahr für Jahr zur Donauquelle der neuen Musik pilgern, fanden eher vereinzelt den Weg in die schwäbische Metropole – was natürlich auch auf Uninformiertheit beruhte: die Programme der Stuttgarter Tage für Neue Musik boten in den mehr als zwei Jahrzehnten, die das Avantgarde-Festival existiert, meist höchst anspruchsvolle Uraufführungen zu oft weit gespannten Themen. Die Schlagschatten, die Donaueschingen oder Witten warfen, haben diese Qualitäten häufig verdeckt. Hans-Peter Jahn, langjähriger Leiter der Neue-Musik-Tage und in dieser Funktion Nachfolger von Clytus Gottwald, zerschnitt vor vier Jahren den Grauschleier, der über den Stuttgarter Musica-Nova-Tagen zu liegen schien. Ein neuer Titel für die Tage Neuer Musik Stuttgart sollte das Wunder bewirken, und er bewirkte es: „Eclat“ nennt sich nun das mehrtägige Festival, und das französisch-deutsche „Großwörterbuch“ bietet als Übersetzung für das Wort gleich im Dutzend Bedeutungen an, die Hans-Peter Jahn seinerzeit vor vier Jahren forsch und optimistisch für sein Avantgarde-Treffen komplett übernahm: Splitter, Span, Knall, Getöse, Lichtblitz, Spalt, Riss, Skandal, Aufsehen, Ärgernis, Helligkeit, Glanz, Pracht, Herrlichkeit, Berühmtheit, Frische. Dem Besucher und Zuhörer der Musiktage bietet sich dabei ein Spiel an: Im Programm und in den Konzerten ein neues oder altes Werk auszuspähen und dieses einer der oben genannten Bedeutungen zuzuordnen. Bei siebzehn Uraufführungen in dreizehn Konzerten sollte es nicht schwer fallen, alle Begriffe zu besetzen – denkt man. Doch die Zeit der großen Skandale in der Neuen Musik sind wohl vorüber.

Auch Pracht und Herrlichkeit erscheinen verbal zu pompös für neue Klänge, doch Klang-Splitter und – Span, Pauken-Knall und Cluster-Getöse, Spalt-Klänge, Bläser-(Licht)-Blitze, Risse im Klangbild können unverändert für Aufsehen, sogar Ärgernis sorgen. Auch Helligkeit und Glanz fehlten diesmal keineswegs, und dass Berühmtheit Frische nicht ausschließt, dafür legte der älteste der beim diesjährigen „Eclat“-Festival beteiligten Komponisten, der 1922 in Basel geborene Jacques Wildberger, beredt Zeugnis ab. Wildbergers „Tempus Cadendi – Tempus Sperandi“, eine Kantate für gemischten Chor und sechs Instrumente, auf Anregung Heinz Holligers geschrieben, „vertont“ vier schwierige, komplexe, gleichsam nach innen gerichtete Gedichte: „Hyperions Schicksalslied“ von Hölderlin, Celans „Tenebrae“ und „Niemandsrose“ sowie Erich Frieds „Hölderlin an Sinclair“. Es sind keine Vertonungen im traditionellen Sinn, vielmehr Dialoge zwischen Text und Musik. Kontrapunktisches, gesprochenes Wort, vokale Deklamation, Flüstern, ostinate Rhythmen, Monotonien durchdringen die Gedichte, steigern deren Expression, in dem sie die Gestik der Vorlagen in komponierte musikalische Gestik überführen. Ein Werk, nobel in seiner distinkten Haltung, erfüllt von einem gebändigten Ausdruck. Im starken Beifall für Werk und Aufführung schwang der Respekt für Wildbergers kompositorische Lebensleistung mit, deren Gewicht für die Musik unserer Zeit nicht unterschätzt werden sollte. Ein anderer Komponist, der seit 1963 in Paris lebende, in Griechenland in Athen 1945 geborene Georges Aperghis, findet langsam aber stetig auch in Deutschland die ihm gebührende Aufmerksamkeit, die ihm in Frankreich schon seit langem gilt – beim alljährlichen Straßburger Musica-Festival gehört Aperghis sozusagen zu den Hauskomponisten. In Straßburg wurde auch Aperghis’ auf Heiner Müllers gleichnamiges Theaterstück geschriebenes Oratorium „Die Hamletmaschine“ uraufgeführt, die nunmehr in Stuttgart ihre deutsche Erstaufführung erfuhr. Heiner Müllers „Materialsammlung“ spiegelt in fünf Bildern die Regression unserer gegenwärtigen Welt, die schon in Hamlets „Staate Dänemark“ von Fäulnis befallen war. Vergeblich rebelliert Ophelia gegen die allgemeine Verkommenheit, während die gefesselte Elektra im Rollstuhl im tiefen Meer gleichsam als ewiges Menetekel ihr Menschenschicksal erleidet. Nach Wolfgang Rihms „Hamletmaschine“ schwingt sich auch Aperghis’ Vertonung auf die Anspruch-Höhe des Müller-Textes. Plastische vokale Deklamation verbindet sich mit dramatischer instrumentaler Aktion. Ein gewisser eklektizistischer Tonfall wird mit kräftiger, oft exzessiver komponierter Gestik überspielt. Kunstvoll verbinden sich Vokalebene (drei Gesangssolisten, Solo-Viola und Solo-Schlagzeuger, die auch singen), Instrumentalsektion aus einfach besetzten Streichern, Holz-und Blechbläsern sowie Klavier, Schlagzeug und Chor zu einer farbreichen Klangpartitur von großer Sinnlichkeit und theatralischer Lebendigkeit, die sich sicher ebenso wie Rihms Adaption in wirkungsvolle szenisch-räumliche Aktionen umsetzen ließe. Aperghis konnte sich gleichwohl in Stuttgart als genuiner Musiktheatraliker mit einer Uraufführung präsentieren: „Re-Citations“ nennt er sein Musiktheater in acht Stationen, von denen er sechs, Wilhelm Killmayer und Nicola Sani je eine komponierten. Leonardo da Vincis plastische Beschreibungen der Wirkungen und Bewegungen von Wasser („De la nature de l’eau“ heißt der erste Titel bei Aperghis) werden vom Komponisten als Beziehungsverläufe zwischen Menschen übersetzt und dargestellt.

Individuelle und Gruppenaktionen hinter und zwischen transparenten Stellwänden, vor den Wänden sowie im benachbarten Orchestersegment unter Beteiligung der Instrumentalisten deklinieren mal ernst, mal heiter menschliche Verhaltensweisen durch. Bei Killmayer nimmt das auf einen selbst geschriebenen, von Kurt Schwitters inspirierten Text, gesungen und gespielt von sechs Vokalsolis-ten, fast surreale, ziemlich komische Züge an: Die Diskussion über Phänomene des Lebens endet mit dem Absturz eines wie vom Blitz getroffenen Sturzbetrunkenen. Zitat: „ Der Blitz ist ein Signal der Schöpfung“. Womit man auch hier beim Titel „Eclat“ wäre. „Re-Citations“ endet nach der Komik schließlich in dunkler Unheimlichkeit. In Nicola Sanis „Voci controvento“ versuchen fünf Sänger mit den Geräuschen, Klängen, Schreien ihrer „Stimmen im Raum“ vergeblich, konkrete Sprache zu gewinnen. In Aperghis’ „De la nature de la gravité“ (für sieben Stimmen, Trompete und zwei Schlagzeuger) führen Reflexionen über die Schwerkraft direkt in ein Todesritual, das der auf dem Rücken auf einem Flügel liegende Kapellmeister heftig fuchtelnd dirigiert: Die Schwerkraft zieht alle und alles hinab.

Silvia Kurz hat die Szenen insgesamt sinnfällig und lebendig theatralisiert. Roland Kluttig führte Musiker und Sänger sicher durch die Schwierigkeiten der Partitur. Das Musiktheater des Georges Aperghis knüpft an die Ästhetik der Sechziger- und Siebzigerjahre an, doch gewinnt das Zusammenspiel von Text und Musik, von darstellerischen und instrumentalen Aktionen, von bewegten Bildern (Film, Video), von Inszenierungen des freien Raumes, seiner Definition durch Klang und Licht, im gegenwärtigen Musiktheater wieder eine wichtige ästhetisch-dramaturgische Rolle. Wer die vielen anderen uraufgeführten Werke klassifizieren möchte, kommt allerdings nicht mit dem Bedeutungskanon von „éclat“ aus. Witzig, intelligent, humorvoll und zugleich anspruchsvoll präsentierte sich das Kinderzaubertheater „Mein Opa Schapopa“. Dem Komponisten John Cedric Brown gelang das Zauberkunststück, den virtuosen Zaubereien eines gewissen ChaPeau alias Roland Schopp ebenso virtuose Klänge von Posaune, Akkordeon, Harfe und der Stimme eines Countertenors beizumischen, delikate Kammermusik, aus der sich einmal sogar ein Blues löst. Dabei verbindet sich die Musik nahtlos mit den Zauber-Aktionen, bildet mit den artistischen Hexereien eine überzeugende Einheit. Riesenerfolg bei Kindern und Erwachsenen inklusive Avantgardisten. Von stillerer Art erwies sich die Kunst des Gitarrenduos Wilhelm Bruck/Theodor Ross bei neuen Werken von Thomas Witzmann („Wanderlust“) und Uwe Kremps „Kurze Schnitte“ – 41 Stücke für zwei Gitarristen und eine Schauspielerin (Susanne Schyns). In beiden Stücken werden leise, nach innen gehörte Klänge äußerst subtil in spielerische Gesten und Aktionen umgesetzt, das „Wandern“ erweist sich dabei oft keineswegs nur als Lust, oft auch als Zwang, wie bei „auswandern“. Hinter der Poesie der Szenen scheint immer wieder auch der Ernst einer Beckett-nahen Gegenwärtigkeit auf. Wunderbar. Was erregte noch Aufsehen (éclat)? Sicher Ricardas Kabelis’ „Mudra“ für großes Orchester, immergleiche akkordische Schläge des Orchesters, gleichsam strukturierte Zeit, radikal in der Anlage, schwierig zu spielen in der erforderlichen „Gleich-Zeitigkeit“. Dem SWR Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Robert HP Platz gelangen immerhin Annäherungswerte an die Ansprüche der Komposition.

Werner Grimmel entdeckte für sei-ne Mörike-Adaption („September-Morgen“), der er den Titel „In warmem Golde fließen“ gab (einer Zeile aus dem Gedicht), den dunklen, warm getönten Klang der Tenorgeige, angesiedelt zwischen Bratsche und Cello. Diese Tenorgeige korrespondiert mit einer „richtigen“ Violine sowie einem sinfonischen Orchester. Es entwickelt sich ein fein komponiertes und oft fugiertes Wechselspiel zwischen den beiden Instrumenten, ein Dialog wie zwischen einem Menschen und seinem Schatten. Persönliche Leidenserfahrung steht wohl hinter dem Werk, doch gelingt es Grimmel, den Trauergestus zu sublimieren und zu überhöhen. Blues-Anklänge und jazzoide Assoziationen wirken wie ferne Erinnerungen an ein erloschenes Leben. Joachim Schall agierte virtuos auf beiden Instrumenten, ohne dabei die starke Expression der Musik zu überspielen. Michael Beils „Aus eins mach zehn“ für Orchester und Tonband sowie die „similar sounds“ von Nikolaus Brass komplettierten das Programm des von Robert Platz geleiteten Orchesterkonzertes: Beides dicht komponierte, komplex strukturierte und ein wenig überkonstruiert wirkende Kompositionen.

Ernst Helmuth Flammers Streichtrio „Durée vécue vers l’Eternel“ verbindet kompositorische Dichte mit klanglicher Transparenz, Gestaltreichtum und Zeitstrukturierung der Abläufe in den vier Abschnitten des einsätzigen Werkes. Georg Friedrich Haas’ neues „Blumenstück“ nach Texten aus Jean Pauls „Siebenkäs“ für 32-stimmigen Chor, Basstuba und Streichquintett wirkte in der Kontrastierung zwischen obertönigen Klangaktionen des Chores und instrumentaler harmonischer Basis insgesamt etwas schematisch-trocken.

Dror Feilers „La chiave a stella“ für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuger kann man, je nach Geschmack, für vital-explosive Musik oder für aufgesetzte Kraftmeierei nehmen. Im letzten Konzert erklang dann, neben neuen Stücken von Christian Utz, Markus Stollenwerk und Ivan Fedele, endlich auch das Werk, das Hans-Peter Jahn zu seiner Neu-Titulierung der Tage für Neue Musik Stuttgart inspiriert haben mag: „Éclat“ von Pierre Boulez. Die Wiederkehr von bereits Erklungenem – so hieß ein Motto dieser Stuttgarter Neuheiten-Demonstration. Das muss kein Fehler sein. Auch gehörte Stücke hört man, wenn sie etwas taugen, oft und gern immer wieder neu. „Eclat 2001“ jedenfalls präsentierte sich innovativ, vielgestaltig, kommunikativ und vor allem: vital. Im nächsten Jahr wird man sich nicht mehr im alten Theaterhaus in Wangen zu „Eclat 2002“ treffen, sondern im neuen, entstehenden Kulturzentrum am Pragsattel.

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