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Komm mit nach Varasdin!

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Nachschlag 2013/03
Publikationsdatum
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Europa, da besteht kein Zweifel, geht schon wieder unter. Trotz Frontex und der Vorwärtsverteidigung am Hindukusch sowie südlich der Sahara wird es überrannt; trotz des Bürokratiebeauftragten Stoiber wird es von den eigenen Vorschriften erwürgt; trotz chinesischer Milliarden und osteuropäischer Schwarzgelder wird es von den Schuldenbergen begraben – eben vermittels jener. Und alles, was dabei beispielsweise von Frankreich übrigbleiben dürfte, das hat Michel Houellebecq in Karte und Gebiet so schön beschrieben: „Romantikhotels, Parfum und Rilettes … – was man die Kunst zu Leben nennt.“ Gesamteuropäisch gesprochen wären dies so was wie Rohmilchkäse, Reinheitsgebot, das savoir vivre und all die anverwandten Künste wie Kanon oder Csardas.

Das ist die Lage, und die hat man sich zu gewärtigen, wenn man die in der letzten nmz-Glosse gestellte und uns alle bewegende Frage ernsthaft beantworten will: „Wo bleibt die Firma, die das Geschäftsmodell ‚Konzerthaus von der Stange‘ endlich konsequent anpackt?“ (nmz 2/13, S. 1) Denn trotz Bussmann und Haberer, Jean Nouvel, Herzog und de Meuron et al. gibt‘s ja keine, und es wird auch keine solche Firma geben. Dazu braucht man nur in die Frühzeit des vorvergangenen europäischen Untergangs zu schauen und vergleichen, wie das Wiener Büro von Ferdinand Fellner und Hermann Helmer in vierzig Jahren Mitteleuropa mit über fünfzig Kulturbauten belieferte, zumeist mit neobarocken Schauspiel- und Opernhäusern, jedoch auch mit der Tonhalle in Zürich sowie den Konzerthäusern in Ravensburg und Wien.

Angefangen mit dem Stadttheater Varaždin 1871 bis zum Wiener Akademietheater 1913 bauten Fellner und Helmer als Monopolisten nicht nur in den Operettenlanden Kakaniens, sondern beispielsweise auch in Wiesbaden, Augsburg, Hamburg, Berlin, Gießen oder Fürth; und sie bauten einfach, modular, preis- wie qualitätsbewusst. Zum Vergleich: Bedeutende Mitkonkurrenten wie Martin Dülfer, Heinrich Seeling oder Max Littmann kamen je gerade auf eine Handvoll Gebäude. Alles Theaterbauten und -baumeister, gewiss: Doch das war die öffentliche Regel, und der Konzertsaal die privat oder mäzenatisch finanzierte Ausnahme – so wie in Hamburg, Duisburg, Leipzig oder anderswo.

Weniger entscheidend sein mag jedoch der Unterschied von Musiktheater und Konzert in diesem historischen Auf und Ab von Untergang und Hochkultur, gemeinhin Dekadenz genannt. Aber es war eine analoge Dekadenz um 1900 und später. Musik wurde gespielt, auf Holz, Darm, Blech, Fell, und sie fand an realen Orten statt, und ebenso begaben sich reale Menschen an reale Orte – oder, wie in der Operette, in reale Affären. Dort, an der Schnittstelle von kompositorischer, musikalischer und architektonischer Kunst, wurde dann gelauscht und geträumt, gebuht und geklatscht, gespielt und vorgespielt, geatmet und geschwitzt und so fort, und die Hochtechnologie, die dafür notwendig war, lieferten die Beleuchtungstechnik und der Brandschutz.

Heute ist die Concert Hall digital und abhängig von Datenströmen und -autobahnen, und dies in all ihren Stadien: ob als Bausimulation, als rechnergesteuerte Raumatmosphäre oder -akustik, ob im weltweit verbreiteten Musikereignis – wobei letzteres gerade noch dazu taugt, dessen Abbild zu beglaubigen. Konzerthäuser von der Stange sind heute allein schon deswegen nicht zu haben, weil sie so komplex sind in der Virtualität ihrer Prozesse und der notwendigen Big Data. Will man all das in die Realität vor Ort überführen, dann wird’s richtig teuer, weil das strenggenommen gar nicht die Aufgabe ist und die Leute gar nicht zusammenkommen sollen. Und wo zudem heutzutage die Hardware dieser Unterhaltungsindustrie in Arbeitslagern Chinas hergestellt und auf wilden Müllkippen Westafrikas entsorgt wird, da ist die gute alte analoge Musikkultur ebenso ein Akt der Nächstenliebe wie der Nachhaltigkeit.

Ob die neuen hochkomplizierten und überaus anfälligen Konzerthäuser über einhundert Jahre europäischer Untergänge und Aufbrüche so locker wegstecken werden wie beinahe all’ die erhaltenen Bauten von Fellner und Helmer und so auch das Theater im dank Kálmáns Csardasfürstin weltberühmten Varaždin? Auf keinen Fall. Drum „Komm mit nach Varasdin!/ So lange noch die Rosen blüh‘n,/ Dort woll‘n wir glücklich sein,/ wir beide ganz allein!“ Und jetzt alle ...

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