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Musikalische Handwerks-Kunst: „Sinfonia da Experimentum Mundi“ von Giorgio Battistelli in Münster. Foto: Peter Leßmann
Musikalische Handwerks-Kunst: „Sinfonia da Experimentum Mundi“ von Giorgio Battistelli in Münster. Foto: Peter Leßmann
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Ohne ästhetische Scheuklappen

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Das KlangZeitFestival der Gesellschaft für Neue Musik Münster stand unter dem Motto „Neue Heimat“
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Dass im Sinfoniekonzert ein mannshohes Eichenfass zusammengebaut wird, zwei Schmiede ihr glühendes Eisen aus dem Feuer holen und auf dem Amboss zurichten, vier Scherenschleifer ihr buchstäblich Funken schlagendes Handwerk betreiben und eine Bäckerin Eier aufschlägt – das dürfte selbst für den eingefleischten Connaisseur Neuer Musik ein absolutes Novum sein. So geschehen beim diesjährigen KlangZeitFestival 2016 der Gesellschaft für Neue Musik Münster, genauer: beim Konzert des Sinfonieorchesters Müns-ter, das sein „ganz normales“ fünftes Abonnementkonzert der laufenden Saison in den zweiwöchigen Zyklus mit Neuer Musik integrierte.

Insgesamt 16 Handwerker braucht der italienische Komponist Giorgio Battistelli (*1953) für seine „Sinfonia da Experimentum Mundi“, deren Uraufführung Münsters GMD Fabrizio Ventura dirigierte – eine Reflexion über Alltagsgeräusche, wie sie Battistelli in seiner Kindheit tagtäglich begegneten. Aus der Polyrhythmik dieser Klangwelt, ergänzt um Frauenstimmen, Streicher, Blechbläser und Schlagwerk, formte Battistelli sein sinfonisches Gebilde. Und weil dies Bezug haben soll zum Ort, an dem es erklingt, griff ihm die Handwerkskammer Münster unter die Arme bei der Suche nach den erforderlichen Handwerkern aus der Stadt und der Region. Allein die beiden Küfer – von denen es im Münsterland keine gibt – musste Battistelli aus Italien „importieren“. Was man da auf dem Podium erleben konnte, war natürlich nicht nur etwas für die Ohren, sondern vor allem auch für die Augen!

Lustig anzusehen war es auch, wie Ansgar Beste die Interpreten seines neuen Stücks „Nouveauné“ („Neugeborenes“) auf die Bühne schickte: mit allerlei präparierten Instrumenten, ob Flöte, Trompete, Tuba, Fagott und etliche andere mehr. Präparation ist für Beste aber kein Selbstzweck. Vielmehr entwickelt er auf diese Weise neue Klangaspekte auf herkömmlichen akustischen Instrumenten – und erzählt die Geschichte, wie aus unterschiedlichen Fragmenten ein neues Ganzes entsteht, etwas neu Geborenes eben. Diese Uraufführung, von Ansgar Beste persönlich akribisch vorbereitet, war eines der Geburtstagsgeschenke, das sich das münstersche Spezialensemble für Neue Musik, das „ensemble:hörsinn“ selbst gemacht hatte. Zehn Jahre lang arbeitet diese Formation inzwischen gemeinsam, bislang als Sextett, in Zukunft aber in größerer Besetzung mit bis zu 20 Ins-trumentalisten.

Von diesen in der Region aktiven Ensembles wie „hörsinn“ profitiert das im Zweijahresrhythmus aufgelegte KlangZeitFestival seit seiner ersten Ausgabe im Jahr 2000. Hinzu kommen Studierende der Musikhochschule Münster mit ihren eigenen Beiträgen, Musikerinnen und Musiker der freien Szene wie der Pianist Clemens Rave oder die Mezzosopranistin Annette Kleine – und „Compania“, die in wechselnder Besetzung spielende Gruppe aus dem Sinfonieorchester Münster, 1993 gegründet, um sich vor Ort um zeitgenössische Musik zu kümmern. Charakteristisch für das Festival ist aber auch stets der Blick über die eigenen regionalen Grenzen hinaus, was sich in diesem Jahr vor allem im übergeordneten Motto widerspiegelte: „Neue Heimat“ lautete der Gedanke, unter den die Kuratoren Reinbert Evers, Stephan Froleyks, Erhard Hirt, Jan Termath und Fabrizio Ventura die dreizehn Konzerte gestellt hatten – wobei niemand von ihnen zum Zeitpunkt der Planung ahnen konnte, welche Aktualität das Thema bekommen würde.

Verlorene oder wiedergefundene Heimat, Erfahrungen von Angst und Gewalt, aber auch von (utopischer?) Vollkommenheit und Schönheit – die thematischen Facetten waren breit gestreut und reichten von Winfried Michels biblischen Meditationen („Alles ist Windhauch ...“ nach dem alttestamentlichen Buch Kohelet) über Ulrich Schultheiss’ „colours of my past“ (kleine Geschichten entwurzelter Flüchtlingskinder) bis hin zu den sprachähnlichen „Sieben Strophen Heimat“ von Jörg-Peter Mittmann. Weitere Auftragskompositionen schrieben Peter Gahn („In the third space“) für das noch junge, dabei höchst souverän agierende Ensemble „CRUSH“, José Maria Sánchez-Verdú („Innere Stimme“) und der kasachische Komponist und Pianist Rakhat-Bi Abdyssagin („Painting in sounds“) – mit 17 Jahren wohl in jeder Hinsicht der jüngste Teilnehmer der KlangZeit 2016.

Mit besonderer Spannung erwartet wurde die aktuellste Arbeit aus der Feder von Jeffrey Ching: „Seventeen Ghosts in Three Scenes“. Darin verbindet sich die chinesische Geschichte vom Schicksal der Konkubine Wang Zhaojun mit Elementen westeuropäischer Literatur wie Oscar Wildes „Salome“ und Bertolt Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“. Ching entwickelt daraus ein rund 60-minütiges Szenario, gipfelnd in einer langen, kreisförmig angelegten geisterhaften Prozession der elf Musikerinnen und Musiker (Leitung: René Gulikers). Es dürfte notwendig sein, sich mit dem literarischen und philosophischen Hintergrund genau zu beschäftigen, um die Bedeutung dieses beinahe schon musiktheatralischen Stücks zu entschlüsseln.

Typisch für Münsters KlangZeitFestival von Anfang an: die Programmplaner kennen keine ästhetischen Scheuklappen, sie bewegen sich inhaltlich abseits von jedem Dogmatismus. Das macht letztendlich auch immer den klanglichen Reiz all der Konzerte aus mit völlig unterschiedlichen künstlerischen Persönlichkeiten wie Enno Poppe (von „hand werk“ Köln grandios umgesetzt), Manfred Trojahn, Fazil Say, Frangis Ali-Sade und auch Karlheinz Stockhausen sowie Bernd Alois Zimmermann. Besonderer finaler Farbtupfer in diesem Jahr und ungewöhnlich für einen Neue-Musik-Zyklus: ein Orgelkonzert mit dem südafrikanischen Organisten Gerrit Jordaan. Man konnte staunen über hoch artifizielle Partituren, unter anderem von Stefans Grové (1922–2014) und Kevin Volans (*1949) – Musik, zu der sich die Komponisten von den Menschen und ihren traditionellen Ritualen sowie von der vielfältigen Natur ihrer Heimat haben inspirieren lassen. Solche Klänge dürften selbst den „eingefleischten“ Kennern der Orgelszene bislang kaum bekannt sein.

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