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Derzeit im Fokus der Berichterstattung: die Hochschule für Musik und Theater München. Foto: Juan Martin Koch
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Raum geben, um gut zu sein

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Musikstudium im Zeichen der MeToo-Debatte
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Ein talentierter 19-jähriger Schlagzeuger, Andrew Neiman, besucht das Shaffer Conservatory of Music in New York City. Eines Tages entdeckt ihn der Leiter der Studioband, Terence Fletcher. Der versucht, seine Studierenden mit „Zuckerbrot und Peitsche“ zu Höchstleistungen anzuspornen. Andrew sieht sich in wachsendem Maße Demütigungen und sadistischer Strenge ausgesetzt. Zunehmend durchschaut er die erniedrigenden Methoden, lässt sich aber auf sie ein. Er trennt sich sogar von seiner Freundin, um sich ausschließlich auf seine Musikkarriere konzentrieren zu können. Obwohl seine Hände vom vielen Spielen bluten, unterdrückt er die Schmerzen und übt unerbittlich weiter. Selbst als ein ehemaliger Student Selbstmord begeht, ist er nicht bereit, gegen seinen hoch verehrten Lehrer auszusagen.

Dies ist der Plot des Films „Whiplash“ von 2014. Der Titel bedeutet Schleudertrauma oder Peitschenhieb und bezieht sich auf die gleichnamige Jazzkomposition, die im Film geprobt und aufgeführt wird. Er verdeutlicht sehr gut die besonderen Bedingungen an Musikhochschulen. Leider hat er ein problematisches „Happy End“, denn die Unterrichtsmethoden werden letztlich nicht in Frage gestellt. Doch er zeigt die fließenden Übergänge bei psychischer Gewalt sehr gut: von allgemeiner Menschenverachtung hin zu sexualisiertem Machtmissbrauch. Letzteres hat nichts mit Sexualität zu tun; für die Beleidigungen werden lediglich sexualisierte Begrifflichkeiten genutzt, wie bei der Beschimpfung: „Wenn du absichtlich meine Band sabotierst, fick ich dich wie ein Schwein. Du bist ein schwuchteliges Stück Scheiße“. Der Film zeigt die Macht von Lehrenden an künstlerischen Hochschulen, die Gefahr von deren Missbrauch und deren verheerende Auswirkungen auf einzelne Betroffene. Und er zeigt die lähmende Angst der anderen Studierenden, die tatenlos zusehen, aus Angst, sonst selbst der oder die Nächste zu sein.

Besondere Verantwortung

Hochschulen sind Ausbildungseinrichtungen. Alle, die dort arbeiten, tragen eine besondere Verantwortung. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat sich im April 2018 zu den Folgen von sexuellen Übergriffen geäußert: Sie „können weitreichende und nicht selten langanhaltende körperliche, psychische und ökonomische Auswirkungen auf Betroffene haben und Gesundheit, Lebensqualität und Leistungsfähigkeit und die Verwirklichung beruflicher Chancen erheblich mindern.“ (HRK-Empfehlung https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-01-Beschlues…)

In Lehrveranstaltungen, Gremien oder im Kollegium ist es oft schwierig, unterschiedliche Arten im persönlichen Umgang mit Nähe und Distanz sowie vorsätzliche Grenzüberschreitungen zu thematisieren. Dies erfordert Zivilcourage und Mut. Dennoch ist es gerade hier wichtig, dies anzusprechen und nicht stillschweigend hinzunehmen. Je früher, desto besser. Das muss nicht vor allen in der großen Runde, sondern kann auch anschließend unter vier Augen erfolgen.

Doch wenn es zu grenzüberschreitenden Situationen kommt, ist es wichtig, möglichst schnell zu reagieren, damit die Beteiligten miteinander reden und sich über verschiedene Wahrnehmungen austauschen können. Nur so können sie verstehen, was da eigentlich gerade passiert – bevor es überhaupt zu sexualisierter Belästigung kommt. Die meisten Musikerinnen und Musiker gehen respektvoll miteinander um, doch mancher hätte vielleicht durch eine spontane Reaktion „so bitte nicht!“ früher lernen können, sich angemessen zu verhalten und sich zu entschuldigen. Auf diese Weise hätten weitere Opfer geschützt werden können.

Auf der Jahrestagung des Netzwerkes Musikhochschulen 2015 wurde diskutiert, was über den künstlerischen Einzelunterricht an Musikhochschulen, diese geliebte, gefürchtete, unerforschte Unterrichtsform, bekannt ist. Für das traditionelle Meister-Schüler-Verhältnis sprechen die großen Leistungen, die damit erzielt werden. Allerdings können ethisch und menschlich problematische Situationen entstehen. Die Betroffenen werden damit völlig allein gelassen. Für Methoden wie Coaching oder Supervision fehlt das Geld. Die Forschungslage zum Einzelunterricht hinter verschlossenen Türen ist dürftig, denn diese Tradition wurde lange nicht hinterfragt. Es ist nicht im Interesse der Beteiligten, sich „in die Karten schauen zu lassen“ und es gibt keine Lobby für mehr Transparenz.

Veränderungsdruck

Andreas Lehmann konstatiert erst seit den späten 1980er-Jahren die Erkenntnis, dass Studierende zeitgemäß auf die moderne Gesellschaft vorbereitet werden müssen, und einen gewissen politischen und gesellschaftlichen Veränderungsdruck (Vortrag bei der Jahrestagung des Netzwerks Musikhochschulen am 19.11.2015 https://netzwerk-musik-hochschulen.de/publikationen/dokumentationen/jah…). Vielleicht ist nun im Zuge der MeToo-Debatte, die mit der Kündigung des Dirigenten James Levine von der Met in New York und eines Wiener Philharmonikers, der eine Cello-Professur an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst inne hat, auch prominenteste Kreise des „klassischen“ Musikbetriebs erfasst hat, der Zeitpunkt gekommen, den Druck zu erhöhen und Licht ins Dunkel zu bringen.

Es können (ungefähre) Grenzen festgesetzt werden, wie weit Menschen sich einander nähern können, ohne dass diese Nähe als unangenehm und als Eindringen in die Wohlfühlzone empfunden wird. Für die nord- und mitteleuropäischen sowie nordamerikanischen Kulturen kann die Distanz zwischen Personen in vier Zonen eingeteilt werden. Danach wird die öffentliche, soziale, persönliche und intime Distanz sogar jeweils in Zentimetern oder Metern angegeben. Welche Nähe angemessen ist, entscheidet sich nach dem jeweiligen Beziehungsstatus. Dies ist auch kulturabhängig. Verletzt jemand den Abstand, reagiert das Gegenüber oft mit Abwehrgesten, beispielsweise Zurückweichen oder dem Verschränken der Arme. Die internationalen Musikhochschulen müssen für Studierende und Lehrende und gegebenenfalls für die Verwaltung interkulturelle Trainings anbieten, um das Verhalten von Personen unterschiedlicher Kulturen besser verstehen und nachvollziehen zu können. Es ist wichtig, nonverbale Kommunikation und Körpersprache richtig zu verstehen und einzusetzen. Im Musikstudium ist der Körper zentraler Bestandteil. Doch der Umgang mit Körperlichkeit, die Beziehung zum eigenen Körper ist offiziell kein Thema an den Musikhochschulen. Erst recht nicht das Bedürfnis nach körperlicher Distanz. Das muss sich ändern! An Universitäten lernen Studierende wissenschaftliches Arbeiten. Dafür gibt es extra Lehrveranstaltungen. Weil die jungen Leute das nicht können, wenn sie an die Uni kommen. Woher auch? Genauso muss es an Musikhochschulen Einführungen geben in den Umgang mit Nähe und Distanz. Der Umgang mit den persönlichen körperlichen und seelischen Grenzen muss in Rollenspielen geübt und immer wieder trainiert werden, auch Situationen aus dem Studienalltag müssen reflektiert werden. Dies muss mittelfristig in den Curricula fest verankert werden.

Körperlichkeit, Nähe, Distanz

Die Beschäftigung mit dem Körper ist im Musikunterricht immer präsent: Lockerungsübungen, Atmungstechniken, Fingerhaltungen, Körperpräsenz für den Auftritt et cetera sind unabdingbar. Berührungen durch die Lehrperson finden häufig und oft ganz selbstverständlich statt. Der Übergang zwischen unbefangenem Körperkontakt und einer Grenzverletzung ist fließend. Klar ist: Hier trägt die Lehrperson die Verantwortung. Der erste Schritt klingt banal, wird jedoch selten unternommen. Lehrende sollten von sich aus das Thema ansprechen und dabei auch ihre mögliche Unsicherheit thematisieren. Sie sollten immer mal wieder nachfragen, ob alles okay ist und ermutigen, es anzusprechen, wenn sich etwas verändert hat. Wenn im Gesangsunterricht eine Lehrkraft ihre Hand auf den Bauch oder Brustkorb einer Studentin oder eines Studenten legt, um zu zeigen, wie beim Atmen die Dehnung wirken sollte, kann das für die eine Person hilfreich und für eine andere unangenehm sein. Trotzdem fragen nur wenige Lehrkräfte, welche Art von Berührung den Studierenden helfen und welche ihnen nicht recht oder unangenehm sind. Viele Lehrende haben, so mein Eindruck aus Gesprächen, mittlerweile Angst vor diesem Thema und verkrampfen oder verstummen selbst völlig, statt das Gespräch zu suchen. Eine Studentin erzählte mir, ihr Lehrer habe verkündet, dass er jetzt einfach niemanden mehr anfasse. Basta. Sie hat das bedauert und lernt nun weniger. Diese Reaktion bringt niemanden weiter, am allerwenigsten die Studentinnen und Studenten. Das kann nicht die Lösung sein.

Was tun, wenn es um die Frage geht: Anfassen oder nicht? Eine einfache Tatsache kann hier helfen. Es gibt verschiedene Arten von Berührungen: Es gibt harmlose Berührungen und es gibt anzügliche. Entscheidend ist in der Lehre: Berührungen sollten sachdienlich sein! Soweit sie im Musikunterricht erforderlich sind zum Beispiel für Haltungskorrekturen, sollten Berührungen vorher angekündigt und begründet werden. Sie sollten sich auf das Notwendige beschränken. Lehrpersonen sollten vorher fragen, ob sie die Studentin oder den Studenten anfassen dürfen. Dies darf niemals eine rhetorische Floskel sein! Es dauert einen Moment, bis eine Antwort gegeben werden kann, so lange muss geduldig gewartet werden.

Aufschlussreich sind dabei auch die nonverbalen Körperreaktionen. Von Seiten der Lehrenden ist eine andere Art der Kommunikation notwendig. Sie wissen die Antwort vorher nicht. Deshalb fragen sie ja nach. Die Frage darf mit Ja oder Nein beantwortet werden. Wichtig ist für den zweiten Fall, dass Lehrende auch Alternativen parat haben. Atmung lässt sich auch mit Fotos, Filmen, Grafiken oder an einem medizinischen Modell von Mund, Zunge, Rachen, Kehlkopf und Brustkorb veranschaulichen. Auch bei einem Arztbesuch visualisieren Modelle, wie der Körper funktioniert. Hier können wir meines Erachtens viel von den medizinischen Berufen lernen. Jede Lehrperson sollte sich Feedback von den Studierenden holen mit der inneren Haltung, dass wir immer auch voneinander lernen. Sie sollten sich selbstkritisch hinterfragen. Diese gegenseitig wertschätzende Kultur ist nach meinem Eindruck an Musikhochschulen noch sehr zurückhaltend, um es vorsichtig auszudrücken.

Ein ermutigendes Beispiel beschreibt Merle Krafeld in einem lesenswerten Artikel im VAN Magazin. Eine Streicherin empfand die Nachfrage ihres Professors auch nach drei Jahren, ob er ihr mit der Hand etwas Gewicht auf die rechte Schulter geben dürfe, wenn sie die mal wieder zu hoch gezogen habe, nicht als anstrengend oder verklemmt, sondern als sehr rücksichtsvoll und angenehm. Ich denke, sie fühlte sich als Person ernst genommen und respektiert. (Merle Krafeld: „Musikhochschulen sind Orte mit ganz besonderen Strukturen, die sexuelle Belästigung begünstigen können“, 8.11.2017 https://van.atavist.com/belaestigung-musikhochschulen)

Weiterbildung für Lehrende

Ein Dilemma ist, dass die Hochschulen in den Berufungsverfahren meist „herausragende künstlerische Persönlichkeiten mit internationalem Renommee“ suchen. Professorinnen und Professoren sind in erster Linie Künstlerinnen und Künstler. Viele von ihnen haben keine professionelle pädagogische, psychologische oder didaktische (Zusatz-)Ausbildung. Es ist schwierig, für die Lehrenden ein gutes „Format“ zu finden. Kaum jemand will zugeben, dass sie oder er Gesprächsbedarf zum Umgang mit Nähe und Distanz hat. Dabei ist das keine Schande, sondern ganz normal. Alle, die an Musikhochschulen unterrichten, sollten sich regelmäßig in Didaktik fortbilden. Weiterbildungen können ein Kollegium insgesamt sensibilisieren für einen respektvollen Umgang mit den Studierenden. Sie können außerdem dazu beitragen, dass Lehrende gemeinsam Verantwortung übernehmen für eine achtsame Kultur an ihrer Hochschule.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich weiterzubilden. Das Netzwerk Musikhochschulen bietet unter anderem Fortbildungen für Lehrende und Verwaltungskräfte an. In diesen Workshops können Erfahrungen ausgetauscht und Ideen weiterentwickelt werden (https://netzwerk-musikhochschulen.de/ueber-uns/ziele/). Die diesjährige Summer School findet vom 11. bis 14. September zum Thema „Musik – Körper – Sprache. Kommunikation in künstlerischen Prozessen“ statt. Das Netzwerk Musikhochschulen könnte auch zu dem Thema Nähe-Distanz Fortbildungen entwickeln.

In Berlin bietet das Zentrum für Hochschullehre (BZHL) einen Workshop zu professionellem Feedback in der künstlerischen Ausbildung und Lehre an. In anderen Bundesländern gibt es vergleichbare Angebote. Wenn die Nachfrage nach spezifischen Angeboten für künstlerische Hochschulen steigt, werden auch mehr Angebote entstehen.Einzelne Musikhochschulen haben bereits Inhouse-Schulungen organisiert. So fand beispielsweise an der Musikhochschule in Weimar Ende 2017 einen Präventionstag statt. Die Kommission „Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt“ (SDG) der Bundeskonferenz der Frauenbeauftragten stellt auf ihrer Website hilfreiches Material zur Verfügung, gibt einen Newsletter heraus und vermittelt auch Referentinnen und Referenten zu der Thematik. Viele ihrer Mitglieder arbeiten seit Jahrzehnten zu dem Thema und verfügen über eine große Expertise (https://bukof.de/kommissionen-liste/sexualisierte-diskriminierung-und-g…)

Es stellt sich die Frage, ob Weiterbildungen verpflichtend sein sollen. Die Freiheit der Lehre und der Künste an Hochschulen ist ein hohes Gut. Sie rechtfertigt vieles. Rechtfertigt sie alles? Für Freiwilligkeit spricht, dass die Lernerfolge in einer motivierten Gruppe am höchsten sein dürften. Pflichtworkshops werden als Bevormundung wahrgenommen und die Energie geht dann oft vor allem in den Widerstand. Doch nur so werden tatsächlich alle Lehrenden erreicht, denn von sich aus werden sich nur diejenigen anmelden, die sowieso schon sensibilisiert sind und bereits ein Problembewusstsein haben. Anders formuliert: Diejenigen, die es am nötigsten hätten, werden sich nicht angesprochen fühlen. An dieser Stelle ist deutlich zu betonen: Es gibt an den Musikhochschulen unzählige engagierte, sensible Lehrende, die sehr gut unterrichten und sich um das Wohl ihrer Studierenden sorgen. Deshalb darf nicht der Eindruck entstehen, Grenzüberschreitungen seien die Regel. Doch sie kommen vor, täglich. Gerade deshalb ist es ja so wichtig, dass die unsensiblen Lehrenden aufgeklärt und gegebenenfalls in ihre Schranken gewiesen werden.

Abwarten wäre zynisch

Ohne den Fall des ehemaligen Präsidenten der Hochschule für Musik und Theater München, der wegen sexueller Belästigung in zwei Fällen 2016 erstmals vor Gericht gestellt und in zweiter Instanz in einem Fall verurteilt wurde, wäre das Thema nicht auf die Tagesordnung der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen gekommen. Ohne die Debatte über Professor Siegfried Mauser gäbe es vermutlich keine entsprechenden Präventionstage und Richtlinien an deutschen Musikhochschulen. In Großbritannien hat die Verurteilung eines Musikprofessors zu elf Jahren Haftstrafe wegen Vergewaltigung mehrerer Schülerinnen und Schüler dazu geführt, dass alle Lehrenden Schulungen machen müssen und Einzelunterricht abgeschafft wurde beziehungsweise nur im Beisein einer dritten Person unterrichtet werden darf. Auf was wollen wir in Deutschland noch warten, bis Schulungen verpflichtend eingeführt werden? Es wäre zynisch, abzuwarten, bis Vergleichbares wie in Großbritannien auch in Deutschland „aufgedeckt wird“. Immerhin ist es schon so weit, dass der Spiegel in der Ausgabe 20/2018 titelt: „Sex im Präsidentenbüro – Pornos im Unterricht, sexuelle Experimente, mutmaßlich Vergewaltigungen: An der Musikhochschule in München herrschten offenbar unglaubliche Zustände“ (http://www.spiegel.de/spiegel/sex-skandal-an-der-musikhochschule-muench…). Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass diese Themen nun breit diskutiert werden und das Tabu gebrochen ist.

Allerdings ist die Art und Weise der Berichterstattung mit zum Teil reißerischen Aufmachern problematisch. Es werden unterschiedliche Themen vermischt. Dadurch besteht die Gefahr, dass bestimmte Hochschultypen, Unterrichtsformate und Lehrende pauschalisiert verurteilt werden. Das grundsätzlich dahinterstehende gesellschaftliche Problem der ungleichen Machtverteilung sowie die darunterliegenden stützenden Strukturen geraten erneut aus dem Blick. Die Gerichte müssen jetzt zügig die strafrechtlich relevanten Tatbestände bewerten und Recht sprechen. Die Musikhochschulen müssen nun endlich Regelungen zum Schutz ihrer Studierenden umsetzen und niedrigschwellige, kostenlose, auf Wunsch anonyme Beratung anbieten und vorbeugende Maßnahmen ergreifen. Der eigentliche Skandal ist nach Ansicht des Komponisten Moritz Eggert, dass die Täter wider jede Vernunft über lange Zeiträume gedeckt wurden, über sie jahrzehntelang nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen beziehungsweise sie nonchalant ignoriert wurden und diese „Fälle“ erst jetzt durch die Gerichtsprozesse öffentlich werden ((https://blogs.nmz.de/badblog/2017/12/04/levine-weinstein-und-der-scheid…).

Prävention an einzelnen Hochschulen ist gut – eine bundesweite Kampagne ist besser. Wir benötigen ein angstfreies, respektvolles Klima. Ich möchte alle ermutigen, sich frühzeitig, das heißt bevor es schlimme Vorwürfe und einen Skandal gibt, mit dem Thema Nähe/Distanz zu beschäftigen. Vorfälle wie an der Münchener Musikhochschule, wo Einzelunterricht zuhause im Schlafzimmer des Professors stattfindet und Pornos gezeigt werden, weil „man im Verhalten der Darsteller so viel über die Oper lernen“ könne, dürfen sich an keiner der 24 deutschen Musikhochschulen wiederholen! Jede Hochschule muss Prävention betreiben. Viel effektiver wäre es jedoch, wenn die Hochschulrektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen präventiv arbeiten würde. Obwohl eine Arbeitsgruppe zu sexualisierter Diskriminierung eingerichtet wurde, findet sich – noch – nichts zu dem Thema auf der Homepage. Warum? Eine bundesweite, von ihr initiierte Kampagne würde international beachtet werden und auch auf die Musikschulen ausstrahlen. In anderen Bereichen, etwa im Fußball, gibt es das bereits und auch die Hochschulrektorenkonferenz hat sich nun zu diesem brisanten Thema geäußert…

Ein positives Beispiel ist auch die Ini-tiative des Deutschen Bühnenvereins. Im März 2018 haben sich Vorstand und Präsidiumsmitglieder mit Vertretungen der Leitungsebenen von Theatern und Orchestern sowie von Rechtsträgern getroffen, um unter anderem über Konsequenzen aus der Missbrauchsdebatte zu diskutieren. Der Bühnenverein will neben anderen Maßnahmen eine neutrale Beratungsmöglichkeit für Betroffene sexueller Belästigung einrichten. Außerdem entwickelt er einen Verhaltens- und Wertekodex, der Regeln für einen angstfreien zwischenmenschlichen Umgang in Theatern und Orchester formuliert und der von den einzelnen Häusern im Sinne einer Selbstverpflichtung weiter ausgestaltet werden kann. (Mehr unter http://www.buehnenverein.de/de/presse/pressemeldungen.html?det=491)

Die Muster gleichen sich

In Deutschland war Regisseur Dieter Wedel Auslöser der MeToo-Debatte. Mehrere Schauspielerinnen hatten im „Zeit“-Magazin am 4.1.2018 schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben, die bis zum erzwungenen Sex reichten. Wedel widersprach den Anschuldigungen per eidesstattlicher Erklärung. Drei Wochen später veröffentlichte die „Zeit“ im Dossier weitere Recherchen und das „Zeit“-Magazin vom 22.3.2018 analysierte, warum und wie der mutmaßliche Machtmissbrauch jahrzehntelang möglich war („Dieter Wedel – Das System“ von Nadine Ahr, Amrai Coen, Christian Fuchs, Götz Hamann, Anne Kunze, Khuê Pham und Annabel Wahba https://www.zeit.de/zeit-magazin/2018/13/dieter-wedel-fernsehen-deutsch…). Diese Analyse ist hochinteressant, denn die Muster von Macht und Missbrauch gleichen sich in der Film- und der Musikbranche. Es gibt viele Parallelen. Der Regisseur könnte auch ein Dirigent sein. Die Macht konzentriert sich in den Händen Einzelner. Wenigen sehr attraktiven und herausragenden Rollen stehen viele (ehrgeizige) Personen gegenüber, die sie haben wollen. Diese Menschen üben ihren Beruf mit Leib und Seele aus.

Die „Zeit“ kommt zu dem Schluss, man könne die Causa Wedel nicht auf den Bereich der sexuellen Belästigung reduzieren, sondern müsse den Blick auf die ganze Bandbreite seines – tolerierten – Despotismus werfen. Die Schauspielerin und Regisseurin Karin Boyd glaubt nicht, dass Demütigungen zu besseren Leistungen antreiben. „Schauspieler müssen sich für ihre Rollengestaltung öffnen. Umso perfider ist es, sie in diesem schutzlosen Zustand bösartig anzugreifen.“ Boyd verweist auf den ungarischen Regisseur István Szabó. Er habe auf die Frage, wie er seine Schauspieler zu so großartigen Leistungen bringe, gesagt: „Ich gebe ihnen die Zeit, die sie brauchen, um gut zu sein.“ (ebda.) In diesem Sinne sollten wir nach den Enthüllungen durch MeToo hinzufügen: Gebt Musikerinnen und Musikern den Raum, den sie benötigen, um gut zu sein!

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