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Von ähnlich provokanter Qualität ist „Hermeto’s Universe“ (Paschen Records), gemeint ist der brasilianische Komponist Hermeto Pascoal.
Von ähnlich provokanter Qualität ist „Hermeto’s Universe“ (Paschen Records), gemeint ist der brasilianische Komponist Hermeto Pascoal.
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Tonträger-Bilanz 2020 von Hans-Dieter Grünefeld

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Der persönliche Jahresrückblick der nmz-Phonokritiker
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Die schönsten Reize des Alten und des Neuen – Kontraste (Galina Ustvolskaya, Uri Caine, Charles Ives, Hermeto Pascoal, Jazzchor Freiburg)

Aufrechter Gang, politisch und moralisch, ist notwendiger denn je zuvor. Daran erinnert Uri Caine mit „The Passion Of Octavius Catto“ (Winter & Winter), einem polystilistischen Oratorium über den schwarzen Pionier der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Octavius Catto wurde von einem weißen Fanatiker erschossen. Gospel- und Popsongs sind mit ultramoderner Symphonik verbunden, sodass ein imposantes musikalisches Monument zu diesem Ereignis vor 150 Jahren mit beabsichtig­tem Bezug zur Gegenwart entstanden ist.

Dennoch bleibt eine „Unanswered Question“, nämlich an Herrn Charles Ives, radikaler Wegbereiter nordamerikanischer Klassik: Warum komponieren Sie keine Musik, die Menschen hören wollen? Seine Antwort: Ich kann nicht. Ich höre anderes. Seine Symbiose aus Popularmusik, mehrdimensionaler Klang-Architektur und multiplen Rhythmen ist auf der Doppel-DVD „Universe Incomplete“ (Accentus) eindringlich als Paradox provinzieller Kreativität dargestellt.

Von ähnlich provokanter Qualität ist „Hermeto’s Universe“ (Paschen Records), gemeint ist der brasilianische Komponist Hermeto Pascoal. Als autodidaktischer Multiinstrumentalist hat er sich seine avantgardistische Jazzklause errichtet, die von überlagerten Zahnrad-Rhythmen verschiedener Tempi, grotesken Fiesta-Stimmungen und anderen Extravaganza gekennzeichnet ist. Dem Bass-Saxophonisten Steffen Schorn ist eine herausragende Hommage zum 85. Geburtstag des Maestros gelungen, indem er für das Norwegian Wind Ensemble diese komplexen Strukturen arrangiert und durch den geschmeidigen Drive des Perkussion-Maestro Marcio Bahia ein maximales Maß an klangästhetischer Attraktivität erreicht hat.

Auf anderem Weg gelingen solche Hörerlebnisse auch mit dem Jazzchor Freiburg, dessen „Infusion“ (Jazzhaus Records) unbekümmert, wie einst Joe Zawinul, den „Birdland“-Club feiert. Allerdings ist der Freude und der treibenden Groove-Kraft dieses instrumentalen Jazzhits ein Text berühmter Namen hinzugefügt. Ein Jazzchor? Ja! Verblüffend an diesem Kollektiv ist, dass es einen ganz neuen, um nicht zu sagen: piekfeinen Sound erfunden hat. Perfekte Stimmführung und professionelle Prosodie, rhythmische Präzision und nuancierte vokale Timbres prägen dieses hervorragende Ensemble.

Zu erwähnen ist, dass die eremitische Komponistin Galina Ustvolskaya ihre Vorstellung von Staatsräson bei „Suites & Poems“ (Brilliant Classics) hatte. „Wenn das Frieden ist, bevorzuge ich Krieg“, sagte der Komponist Samuel Barber, nachdem er in der UdSSR 1962 das „Poem On Peace“ gehört hatte. Was dem US-amerikanischen Gast entging: Die Reaktion seiner Kollegin auf Anpassungsdruck sowjetischer Behörden war subversiv. Denn sie stülpte gewünschte Euphorie- und Triumphgesten in hart punktierte Trommelschläge, dissonante Trompetensignale und einen skandierten Text in ein martialisches Klangschlachtfeld um. Ebenso ist „Hero’s Exploit“ ein mys­teriös-grelles Porträt, Mut und Leid scharf konturierend. Was affirmativ erscheint, bestätigt in diesen CD-Premieren nur, dass Galina Ustvolskaya sich politisch nicht verbiegen ließ.

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